Nichts feit vor dem, was von oben kommt: Maurizio Cattelans Skulptur Johannes Pauls II. (mit Meteor).

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Das epochale Revolutionsjahr 1968, geprägt durch die Unduldsamkeit seiner Aufrührer, machte auf Spitzenvertreter des Katholizismus jeweils unterschiedlich Eindruck. Joseph Ratzinger zum Beispiel, der spätere Papst Benedikt XVI., als Theologe einst reformoffen, wurde von ein paar Krawallschlägern eingeschüchtert und ins reaktionäre Bockshorn gejagt. An der Uni Tübingen begrüßte man den Gottesmann, wird berichtet, anno ’68 mit Wurfgeschoßen, darunter Fruchtsaftpackungen.

Weitaus ermutigender müssen die Erfahrungen gewesen sein, die der Wiener Kaplan Adolf Holl (1930–2020), ein reger, unangepasster Kopf, damals mit Protestierern aller Klassen gemacht hat. Die Forderungen nach Praxisnähe, nach Öffnung und Freiheit könnten ihn, den Dozenten der Theologie, in einer Reihe von Intuitionen bestärkt haben, die Holl mit Blick auf die damalige Kirche ohnehin hatte.

Wer jetzt im zweiten Band der Adolf-Holl-Werkausgabe nachliest – er trägt den Titel Tod und Teufel –, reibt sich, pünktlich zum Ableben von Papa emeritus Benedikt, die Augen. Bezeugt und geschürt wird von Holl die Glut eines "anderen", von keiner Aufklärung der Welt totzukriegenden Katholizismus.

Man kann die berüchtigten Abweichungen Holls von den Dogmen der Amtskirche im Kern für konservativ ansehen. Für die Anbringung von Korrekturleistungen, die das Heilsversprechen Jesu Christi umso ernster nehmen. Dieses heißt Erlösung. Es ist, wenigstens für religiös Empfängliche, nicht einfach von der Abendmahlstafel zu wischen.

Schon in seinem Bestseller Jesus in schlechter Gesellschaft (1971) hatte Holl die Partei des sanften "Revolutionärs" Christus ergriffen. Dessen Tod, aufgehoben durch das Wunder der Auferstehung, lehrt die mit dem Bewusstsein ihrer Endlichkeit belasteten Menschen Überwindung: die ihrer Todesangst.

Sie ist es, die dem menschlichen Hang zur Grausamkeit zugrunde liegt. An ihr mästet sich das Triumphgefühl, das jeden Überlebenden, konfrontiert mit dem Ableben eines seiner Mitmenschen, unfehlbar überkommt. Die Wiener Variante dieser Anwandlung liegt in der Gestalt des Herrn Karl vor. Wenn unter dessen Fenster der Rettungswagen tönt, tröstet sich das goldene Wienerherz mit der Gewissheit: "Karl, du bist es nicht!"

Planvolle Verzettelung

Holls zweites Buch (1973), der äußeren Form nach ein Zwiegespräch mit einem älteren Landwirt, scheint sich tausendfach zu verzetteln. Von den Verzehr- und Opferpraktiken der Urmenschen führt, unter Berücksichtigung von Freud und Adorno, kein ganz gerader Weg zum Heil. Dagegen wird man gleichsam mit der Nase auf Canettis Massentheorie gestoßen. Man landet jedoch, wie durch ein Wunder, in der Basilika der Mariazeller Gnadenkirche. Oder lauscht dem Erlösungsmarxisten Ernst Bloch. Dieser bestätigte 1970, die Existenz des Bösen auf der Welt müsse bedauerlicherweise für gegeben angesehen werden. Sein Holl imponierender Vorschlag: Lasst uns Begriffe entwickeln, die "das Licht vor unseren Fuß werfen".

Holls Schriften sind voller einleuchtender Effekte. Aus den unterschiedlichsten Strängen der Überlieferung windet dieser von der Amtskirche am Wirken gehinderte Gottesmann ein strammes Seil. An ihm klettert man auch ohne Katechismus zu Gott empor. Holl war auch deswegen authentischer 68er, weil er dialektisch zu denken verstand. Nur über eine Unzahl von Verneinungen dringt der Gottsuchende zum Kern der Frohbotschaft vor. Ein genuin gottesfürchtiges Denken wäre sohin "der Versuch, alle Dinge so zu betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellten" (Theodor W. Adorno).

Geschichtliche Kraft

Von der Kirche, die ihm 1973 seine Lehrbefugnis entzog und ihn, der den Zölibat nicht leben wollte, 1976 als Priester suspendierte, wollte Holl nicht lassen. Wohl dünkte ihn ihr Kernanliegen eine "geschichtliche Kraft". In der konnte er sich wiederfinden. Die "wahrnehmbaren Gestalten" besagter Kraft sah Holl unter der Einwirkung von Wissenschaft und Technik dem Zerfall preisgegeben. Damit meinte er die verknöcherten kirchlichen Einrichtungen.

Vielleicht haben Holl und Ratzinger nur dasselbe Licht vor ihren Fuß geworfen, und dieser war bloß unterschiedlich beschuht. Womöglich aber hatte Holl sich, als Anwalt der Mühseligen und Beladenen, auch nur an die Seite Jesu Christi begeben. Und wurde darüber, ganz ohne Segen der Kirche, zu einem der brillantesten Intellektuellen, die dieses Land nach 1945 besessen hat. (Ronald Pohl, 25.1.2023)