Der Autor stellt große Fragen.

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Kuyûnik, Provinz Mossul (1837)

Pater Ryllo blickte auf, als er die aufgeregten Rufe hörte. Er hatte gerade seine Hände im Tigris gewaschen, der laut der Genesis im Garten Eden entsprang, hatte sein Spiegelbild mit dem immer vertrauter werdenden Turban betrachtet und über die Leute hier nachgedacht. Wie viel Potenzial in ihnen steckte, wenn sie sich nur ihrer Fähigkeiten bewusst wurden. Bis vor wenigen Jahren hatten mameluckische Statthalter das Land regiert, christliche Sklaven, die zu Herrschern erzogen worden waren.

Doch der letzte Mameluckenpascha war zu eigensinnig geworden, und die Ottomanen hatten die Gebiete wieder unter die Kontrolle Istanbuls gebracht. Ryllo wusste, dass er vorsichtig sein musste. Er war als Missionar hier, sein Einfluss als Jesuit wurde derzeit geduldet. Doch sein Sinn für Gerechtigkeit machte ihm die Arbeit schwer. Seine Predigten seien zu politisch, hatte man ihn gewarnt.

Jesuit mit Mission

Er riet den Leuten, sich gegen Unterdrückung aller Art zu wehren, was ebenso Argwohn erweckte wie seine Bestrebungen, überall Schulen zu errichten. Aber er war fest davon überzeugt, dass die Menschen ihr Schicksal letztlich selbst in die Hand nehmen mussten.

Ryllo wischte sich die Hände ab und folgte den Rufen. Er hatte einen jungen Mann losgeschickt, um sich nach der Stelle zu erkundigen, die von den Einheimischen Ninaa genannt wurde. Ein Name, der ihm vertraut erschien.

Reinhard Kleindl, "Das Gotteselixier". € 12,– / 445 Seiten. Lübbe, Köln 2023.
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Das älteste Geheimnis

Schon bei seiner Ankunft hatte er von seltsamen Ornamenten gehört, die in dieser Gegend gefunden worden waren und manche Gelehrte wahlweise als sinnlose Verzierungen, andere als heidnische Gebetsformeln ansahen.

Doch als Ryllo dem Mann folgte, führte dieser ihn nicht ins Dorf, wo sich vielleicht einer der Alten an etwas erinnerte, sondern auf den Hügel, der Ryllo vorhin schon aufgefallen war, weil er etwas zu regelmäßig schien. Als sie den steilen Hang hinaufkletterten, entdeckte er zerbrochene Tonziegel, und sein Herz schlug schneller.

Des einen Müll, des anderen Schatzes

Oben angekommen, zeigte ihm der Mann eine frisch ausgehobene Grube. Als er sah, was sich auf ihrem Grund befand, wusste er sofort, dass er mit seinem Verdacht richtig lag. Er hatte sich nicht getäuscht, als ihm der Name Ninaa bekannt vorgekommen war.

Ninaa – Ninive.

Was vor ihm lag und für Laien aussehen mochte wie ein Haufen Schutt, war ein Schatz, der den Schlüssel zum ältesten Geheimnis der Menschheit darstellte – einem Geheimnis, das gefährlich werden konnte, wenn es in falsche Hände geriet.

Ryllo musste dringend mit Rom Kontakt aufnehmen, damit der Heilige Stuhl davon erfuhr.

(Reinhard Kleindl, 28.1.2023)