Spurensuche: Die Wiener Autorin Kirstin Breitenfellner hat der Künstlerin Maria Lassnig einen Roman gewidmet. Das Bild zeigt Lassnig vor dem 1974 entstandenen Gemälde "Doppelselbstporträt mit Kamera".

Foto: OEFM, Österreichisches Filmmuseum

Paris, um 1860. Zwei Brüder, die Schriftsteller sind, Edmond und Jules de Goncourt. Erfolgreich sind sie, viel gelesen im Paris Napoleons III., befreundet mit Flaubert. Das Besondere an ihnen war jedoch nicht nur ihr im Geheimen geführtes Tagebuch, eine Schatztruhe von Klatsch und Tratsch, von Sottisen, Bon- und Malmots über Zeitphänomene und Zeitblitze, es war vor allem ihre enge, quasi siamesische Existenz. Die Brüder mit einem Altersunterschied von neun Jahren, Edmond 1821 geboren, Jules 1830, lebten gemeinsam, schrieben zusammen ihre Romane, tauchten bei gesellschaftlichen Einladungen und Empfängen stets zu zweit auf. Ein Doppelleben also.

Alain Claude Sulzer, "Doppelleben". Roman. € 23,70 / 292 Seiten. Galiani, Berlin 2022.
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Der in Berlin und Basel lebende Alain Claude Sulzer erzählt davon. Und von einem anderen Doppelleben, dem ihrer langjährigen Haushälterin. Die sich fatal in einen Don Juan verliebt. Dieser verführt sie, schwängert sie, lässt sie fallen. Im Geheimen, ohne dass ihre beiden Arbeitgeber, literarische Realisten und stolz auf ihren alleserfassenden, alles durchdringenden Blick, etwas mitbekommen, bringt sie ihr Kind zur Welt, das zu Pflegeeltern kommt. Kurz vor ihrem zweiten Geburtstag stirbt die Kleine. Woraufhin Rose krank wird, stirbt.

Schauen und Blindheit

In ihrem kleinen Nachlass in ihrer Stube unterm Dach finden die beiden frères dann zu ihrem Erstaunen Dokumente, die ein Doppelleben dokumentieren. Und was machen sie als Autoren? Sie transformierten Roses Schicksal in einen Roman, Germinie Lacerteux, eines der wenigen Bücher der Goncourts, die aktuell noch lieferbar sind. Wenige Jahre später, 1870, starb Jules mit 39 Jahren. Edmond blieb zurück. Und fühlte sich halbiert. Ihm wollte bis zu seinem eigenen Tod ein Vierteljahrhundert später nicht mehr viel gelingen. Er stiftete einen Preis. Der Prix Goncourt wird bis heute verliehen und gilt als einer der wichtigsten für frankophone Literatur.

Doppelleben ist ein kluges, sensibles Buch über Leben und Literatur, über Schauen und Blindheit, über Verkrüppelung und Multiplikation durch Andere, richtiger: den Anderen, ist Sulzer gelungen.

Sylvia Plath, "Das Herz steht nicht still. Späte Gedichte 1960–1963". Zweisprachige Ausgabe. Übersetzt und mit einem Nachwort von Judith Zander. € 25,70 / 224 Seiten. Suhrkamp, Berlin 2022.

Ich will bekennen

Über Sylvia Plath, die amerikanische Lyrikerin und Autorin (Die Glasglocke), ist mehr bekannt, viel mehr als über die Goncourts. Im Grunde ist über sie in den letzten 50 Jahren alles ausgeleuchtet worden. Ihre Ehe mit dem ebenso hochbegabten, ebenso komplexen Lyriker und obsessiven Schürzenjäger Ted Hughes. Diese Verbindung, die sie beide literarisch wie emotional bis zur Abgründigkeit ausbeuteten. "Confessional poetry" wurde das Genre getauft, dem ihre Gedichte wie auch die von Robert Lowell (Life Studies) zugeordnet wurden, der nach katastrophischen Ehen 1977 in einem Taxi einem Herzinfarkt erlag, oder John Berryman, der, krank und schwer depressiv, von einer Brücke in Minneapolis sprang, biografisch-emotionale Geständnisdichtung.

Auch Plaths Einsamkeit und Depressionen, zerrissen zwischen Familie und Schreiben, ständig ersehntem Schreiben – ihre Produktivität war hoch –, Einsamkeit und noch größerer innerer Isolation. Ja selbst ihr grausam exekutierter Suizid mit Gas am 11. Februar 1963 mit gerade einmal 30 Jahren. Die schwedische Autorin Elin Culhed hat nun über das letzte Lebensjahr einen Roman mit dem Titel Euphorie geschrieben. Bedauerlicherweise preist ihn der Verlag doppelt autobiografisch an – Culhed, selbst in einer emotionalen Krise begriffen, habe die Geschichte über Krise, Befreiung, Aufbruch und Zusammenbruch als Eigentherapeutikum geschrieben. Das fasst es kaum, das reicht zu kurz und reduziert die erzählerischen wie dramaturgischen Fähigkeiten der in Uppsala lebenden Schriftstellerin.

Elin Cullhed, "Euphorie. Ein Sylvia-Plath-Roman". Übersetzt von Franziska Hüther. € 24,70 / 336 Seiten. Insel, Berlin 2022.
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Andererseits lässt sich an diesem Prosawerk ersehen, wo Grenzen biografischen Romanerzählens liegen: gerade in der Projektion des Heute auf ein im Falle Plaths noch präfeministisches Gestern. Hie und da und dann immer öfters geht das empathisch zu weit. Und erzeugt opake, sich ballende Unwohlheit.

Die Rakete übers Haus

Die Stimme Plaths war bereits vor Culhed ausgeprägt und individualistisch vorhanden, in großer Stärke. Das zeigen die von Judith Zander neu übertragenen, zugänglichen, weil antihermetischen Gedichte aus ihren letzten drei Lebensjahren in Das Herz steht nicht still. In "Übernachten in der Mojave-Wüste" heißt es: "Hier draußen gibt es keine Herdstellen, / Nur heiße Körnchen. Es ist trocken, trocken. / Und die Luft gefährlich."

Stimmstärke? Das gilt für die Frauen nicht, denen Martina Clavadetscher eine Stimme gibt. Modelle der bildenden Kunst, die unbekannt, manchmal sogar namenlos geblieben sind. Und die von Männern porträtiert wurden. Den Ausgang nahm ihre Sprachermächtigungsreihe im Kunstmuseum Basel, als sie für ein Theater über ein frei auszuwählendes Bild einen Kurzessay zu schreiben hatte. Sie suchte sich ein Werk Egon Schieles aus. Das hing nicht in der Dauerausstellung, sondern war mühsam im Depot ausfindig zu machen.

Martina Clavadetscher, "Vor aller Augen".€ 24,70 / 240 Seiten. Unionsverlag, Zürich 2022.
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Halb Rezitativ, halb Monolog

Wer war die auf der Leinwand zu sehende Waldburga Neuzil? Clavadetscher schrieb ihre Vignette aus der Perspektive der Dargestellten. Und hat dieses Prinzip auf Leonardo da Vincis Dame mit dem Hermelin und Raffaels La Fornarina ausgeweitet, um Rembrandt und Vermeer erweitert, um – eine seltene Umkehrung – Angelika Kauffmann und ihr Selbstporträt und Eugène Delacroix, um Manet (einer der etwas schwächeren "Ansprachen") und Whistler oder van Gogh. Halb Rezitativ, halb Monolog, durchaus theatralisch durchpulst ist Clavadetschers Kaleidoskop dieser Frauen.

Ebenso überwiegend eindringlich geraten ist Maria malt, der Roman der Wiener Journalistin Kirstin Breitenfellner über Maria Lassnig, geboren im September 1919 und im Mai 2014 in Wien verstorben. Nun gibt es über die Malerin aus Kärnten eine 2017 erschienene, sich auf 400 Seiten summierende Biografie. Näher kommt man ihr aber mit diesem gut zu lesenden Roman. Lassnig malte, was sie fühlte und vor allem: wie sie sich fühlte. Dafür erfand sie einst selbst den Begriff "Body-Awareness Paintings", Körperbewusstseinsbilder.

Kirstin Breitenfellner, "Maria malt". Roman. € 28,– / 464 Seiten. Picus, Wien 2022.
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"Entdeckung des Jahrhunderts"

Hie und da wurde dies in der Kunstkritik treffend als Psychorealismus bezeichnet, bei dem das Innere nach außen gestülpt wird. 1982 nahm sie an der Documenta 7 in Kassel teil, erst 1985 folgte die allererste Personalschau ihrer Ölbilder in Wien, in der sie ein Halbjahrzehnt zuvor zur ersten Mal-Professorin berufen worden war. In ihrem letzten Lebensjahrzehnt häuften sich dann die Ehrungen und Preise. 2008 feierten sie Kritiker in London als "Entdeckung des Jahres – des Jahrhunderts" und nannten sie in einem Atemzug mit Francis Bacon und der anderen Jahrhundertkünstlerin Louise Bourgeois.

Im Begleitkatalog zu ihrer sehr gut besuchten Werkschau 2010 mit einer Fülle von seinerzeit kaum mehr als acht Jahre jungen Arbeiten in der Städtischen Galerie im Lenbachhaus zu München, einst die Residenz des Salonmalers Lenbach, nun erobert von einer gänzlich anders temperierten Künstlerin, las man – Lassnig war damals knapp über 90 – das staunenswert vitale Bekenntnis "Trotzdem, ich will noch immer etwas Neues machen und wenn es nur etwas Kleines ist". Das war der programmatische Auftaktsatz. Und der zweite, noch kämpferischere lautete: "Doch, ich will schon auch die Rakete übers Haus schießen!"

Gerade diese Emphase, das Kämpferisch-Künstlerische – schön ist die Schilderung von Wien ab Ende der 1940er-Jahre, als sie mit Arnulf Rainer zusammen und mit den ebenfalls um zehn Jahre jüngeren Friedrich Stowasser (später: Friedensreich Hundertwasser) und Ernst Fuchs befreundet ist –, die Verve und die ironische Subtilität werden in Breitenfellners die Lebensstationen intensiv nachzeichnendem Roman deutlich. (Alexander Kluy, 5.2.2023)