"Als der Vater mich zuletzt sah, trug ich den teuren Hosenanzug, war frenetisch verliebt in Johannes und offenbar tatsächlich der Meinung gewesen, das alles führe irgendwann irgendwohin": Birgit Birnbacher.

Foto: Sorge/Caro/ picturedesk.com

Der Vater hat diese schlecht zusammengewachsene Narbe zwischen Oberlippe und Nase länger, als es das Wort Lippen-Kiefer-Gaumenspalte gibt. Er ist ein großer, breitschultriger Mann, in seinem Strickpullover hängen Sägespäne, und wenn er geht, schwankt er mit den schmerzenden Knien wie ein alter Baum im Sturm.

Für den Vater gibt es zwei Arten von Glück: die leise Freude, wenn zu jeder vollen Stunde ein Singvogel aus der Vogeluhr in der Werkstatt zwitschert, und die stumme Zufriedenheit über alle möglichen Arten von Arbeit. Dass das heimische Vögel sind, darauf legt der Vater, der sich ansonsten mit seiner ornithologischen Leidenschaft eher zurückhält, besonderen Wert. "Da siehst du, wie schön es bei uns ist", hat er oft gesagt, wenn die Blaumeise oder die Kohlmeise oder der Buntspecht sang, während ich in der Werkstatt saß und die Vögel mit den Jolly-Buntstiften abmalte, Zinnoberrot und Goldocker, Smaragdgrün und Fleischfarbe.

Der Vater und ich haben einander so lange nicht gesehen, dass wir beide erschrecken, als er mit dem alten Suzuki auf dem Krankenhausparkplatz auf mich zurollt. So wollte ich das ja. Ich wollte nicht, dass er mich zu Hause abholt, weil ich fürchtete, zu weinen. Wahrscheinlich werde ich so bald nicht zurückkommen. Schon durch das Autofenster sehe ich, dass er alt und fahl aussieht, zusammengefallen.

Alles wird gut

Als der Vater mich zuletzt sah, trug ich den teuren Hosenanzug, war frenetisch verliebt in Johannes und offenbar tatsächlich der Meinung gewesen, das alles führe irgendwann irgendwohin. Was genau ich mir ausgemalt habe, weiß ich nicht mehr. Oder es war vielleicht auch nichts, und ich war nur verrückt genug, zu glauben, dass irgendwann alles gut werden würde, freilich ohne zu wissen, was genau das hieß: gut werden.

Vater kommt mit dem alten Suzuki neben mir zum Stehen. Den krachenden Motor stellt er nicht ab. Er greift herüber, um mir die Tür zu öffnen, mustert mich, mein spitz gewordenes Gesicht unter der Kapuze und die spärlich befüllte Nike-Sporttasche, in der alles ist, was ich brauche. "Ich dachte, es ist für länger?", schreit er gegen das Knattern des Motors.

Das Auto stinkt, ich halte mir den Ärmel vors Gesicht. Wer beim Einsteigen noch nicht lungenkrank ist, wird es während der Fahrt. Als er losfährt, drückt er aus Gewohnheit den Zigarettenanzünder hinein. Weil er nicht weiß, was er mit mir reden soll, angelt er sich eine Memphis aus der Brusttasche, wie er es immer gemacht hat. Der Anzünder springt geräuschvoll wieder heraus. "Ist es auch", sage ich, nehme den Anzünder und stecke ihn wieder hinein. "Es ist für länger. Erst einmal ist es sogar für überhaupt."

Legt ihren dritten Roman vor: Birgit Birnbacher.
siegrid cain

"Knapp am Sauerstoff vorbei"

Den Zigarettenanzünder schaut er an, als hätte ich ihm was weggenommen. Ich schnaufe tief: "Ich bin knapp am Sauerstoff vorbei." Ihm kann ich das zumuten, er ist Hypochonder, übertreibt alles. Ich denke noch immer an all diese Menschen auf der Lungenstation, auch jüngere als ich, die dort mit ihren Sauerstoffflaschen herumsitzen, schwitzende Menschen, Menschen mit großem Durst, Menschen mit leerem Blick, Menschen, die nicht sprechen können, aber den Zeigefinger auf dem Haltegriff des Rollstuhls heben, wenn sie die Schwester brauchen. Zu diesen Menschen habe ich auf einmal gehört, mit ihnen bin ich gerade noch in den Gängen gesessen, auf einmal war ich nicht mehr die, die herbeigeeilt ist, sondern die, die die Hand nach der Schwester hob. "Bei uns ist eine gute Luft", sagt der Vater und steckt die Zigarette weg.

Es ist wie immer zwischen uns: Ich rede, aber es ist umsonst. Die spärliche Sprache, die sie mir beigebracht haben, verstehen sie nicht. Auf meine Krankheit ist er höchstens neidisch. Wenn ich Asthma habe, hat er ein Lungenemphysem. Also vermeide ich, ihn zu fragen, wie es ihm geht. Und er, beleidigt und gehemmt, fragt auch mich nicht. Lieber erkundigt er sich nach Handfestem. "Und deine Wohnung?" "War von der Arbeit", sage ich.

Roadtrip Richtung Heimat

Schweigend fahren wir aus der Stadt hinaus. Ich lasse meine Kapuze auf und sage nichts, als er zweimal bei Dunkelgelb Vollgas gibt. Der Vater ist ein praktisch veranlagter Mensch. Ich weiß, dass es jetzt in seinem Kopf rattert: Wer räumt die Wohnung aus? Wie, und vor allem wohin will ich übersiedeln? Aber er sagt nichts, kein Wort.

Jetzt rücken die Berge schon näher. Alles, was ich hier sehe, kenne ich. Die nassen Felsen, durch die sich Tunnel nach Tunnel bohrt, die steilen Wände, die kargen Überbleibsel von Bäumen, dürre Äste, die sich dem rauen Klima zum Trotz gen Himmel recken. "Wie geht es Mama?", frage ich, ich muss ja was fragen. "Und David?"

Ich weiß natürlich, dass er über David keine Auskunft geben kann. Selbst, wenn er David gestern besucht hätte, wüsste er nicht, was er sagen soll. "Redet ja nichts", hat er früher oft geantwortet, wenn er nach seinem Sohn gefragt wurde.

Versöhnliche Gefühle

Der Vater ist alt geworden. Er fährt mit beiden Händen am Lenkrad, bei 80 oder 130, den ewig gleichen Hunderter. Dabei zeigt er jedem, der ihn irgendwie ungut überholt, ob das nun ein Münchner Maserati mit 160 ist oder ein Basecap-Träger mit getuntem Volkswagen, den Vogel. "Erzähl ich dir daheim", sagt er.

Erzählen, sagt er wirklich. Ich mache die Augen zu. So war das immer: Die Gegend nimmt mir die Luft. (…) Der lange Schatten des bewaldeten Hügels links von uns wölbt sich bis über die Straße und das längst geschlossene Seerestaurant. Hinter dem Wald auf dem Hügel ist unser Haus. Es weckt versöhnliche Gefühle in mir, wie unverändert alles hier ist. Als hätte es auf einen gewartet, während man selbst gelebt und die Dinge verschissen hat. (…)

Birgit Birnbacher, "Wovon wir leben". Roman. € 24,70 / 192 Seiten. Zsolnay, Wien 2023 (Das Buch erscheint am 20. Februar.)
Foto: Verlag

Der Vater fährt an den Straßenrand, um den schwarzen Astra-Kombi aus der Stadt vorbeizulassen. Der Astra fährt im Schritttempo an uns vorüber, streift dabei aber Vaters Suzuki am Seitenspiegel, sodass dieser sich krachend löst. Der Vater flucht, stellt den Motor ab und befreit sich energisch von seinem Gurt. Der andere kommt schon zu Fuß auf uns zu, der Vater kurbelt die Scheibe herunter: "Ja haben s’ dir ins Hirn geschissen?", schreit er durch das halbgeöffnete Fenster. Ich möchte sterben. "Entschuldigen Sie", sagt der Mann, ein Mittvierziger, sehr groß, erkennbar nicht von hier, erkennbar irritiert. "Ja, hast du Augen im Kopf, oder wie geht es dir?", schreit der Vater.

Ich sage, dass er aufhören soll, es sei doch gar nichts passiert. Ich sage nicht: Als wäre das bei seinem Auto nicht längst egal. Natürlich ist es ihm überhaupt nicht egal, der Vater pflegt ja die Dinge mehr als jedes Lebewesen. Wichtigtuerisch steigt er aus und nimmt den alten Spiegel entgegen, der ohnehin nur noch an Lötstellen gehangen ist. Der Städter muss ein bisschen grinsen. "Also, bei mir fehlt nichts", sagt er zum Vater.

"Jetzt steig ein, Papa", sage ich.

"Gib mir dein Handy", sagt er zu mir.

"Mein Handy ist aus."

"Ich mach ein Foto und schick es Ihnen", bietet der Städter sich an.

Als das endlich erledigt ist und dem Vater nach einer Ewigkeit einfällt, wie seine Handynummer geht, steigt er endlich wieder ein. Im Rückspiegel sehe ich den Städter winken, bevor er in sein Auto steigt. Der Vater hebt nur das Kinn, während er mir den Seitenspiegel in den Schoß legt und davonfährt. (Birgit Birnbacher, 5.2.2023)