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Nicht überall besteht die ideale Familie aus Vater, Mutter, Kind.

Foto: Getty Images / Peter Dazeley

Ein Blick über den Horizont der eigenen kleinen Welt zeigt, dass Menschen im Bereich Geschlechterbeziehungen nicht nur das erfunden haben, was man hierzulande kennt, lebt und erleidet. Nicht immer und überall besteht eine ideale Familie aus Vater, Mutter, Kind und Hund im Häuschen mit Vorgarten. Innerhalb und außerhalb westlicher Länder existieren Gesellschaften, die ganz andere Lebensmodelle pflegen oder pflegten.

In Südafrika will die Regierung ein neues inklusives Eherecht durchsetzen, das Heiratsregime mit dem Verfassungsgrundsatz der Gleichheit in Übereinstimmung bringt. Bis März 2023 soll ein Gesetzesentwurf dem Kabinett zu Begutachtung vorgelegt werden, ein Jahr später soll das Parlament verhandeln.

Im Zuge dessen ist im Lande eine Debatte ausgebrochen, die seit 2021 vor sich hin köchelt. Denn in einigen Gemeinschaften ist Polygamie eine langgeübte soziale Praxis, freilich in der recht einseitigen Form der Polygynie, des Anspruchs eines Mannes auf Ehen mit mehreren Frauen. Dabei werden die Beziehungen nicht hintereinander gelebt – was ja auch in westlich orientierten Gesellschaften nicht ungewöhnlich ist (sukzessive oder serielle Monogamie), sondern gleichzeitig und nebeneinander.

Grundsatz der Gleichheit. Die gelebte Praxis der Polygynie widerspricht aber dem Grundsatz der Geschlechtergleichheit. Und deswegen ist eine unerwartete Frage aufgetaucht: Wenn in einer Gesellschaft, die eine Gleichstellung aller Menschen in ihrer Verfassung vorsieht, Männer mehrere Frauen heiraten dürfen, muss dann nicht das gleiche Recht auch für Frauen und alle anderen Geschlechter gelten?

Grundsatz der Gleichheit

Jedenfalls sind im Lande die Fantasien entbrannt – und kurz danach auf dem ganzen Kontinent. Ungewöhnliche Ideen und Meinungen tauchten auf, manche sahen plötzlich sexuelle Wunschvorstellungen Wirklichkeit werden, anderen verdüsterten Albträume die Gemüter. Geschlechterrechtskämpferinnen und Geschlechterrechtskämpfer traten in Aktion.

Wenig überraschend führte der Vorstoß zu einem Aufschrei des Protestes vonseiten konservativer und klerikaler Kreise. Wenig überraschend mobilisieren gerade Männer, die Ehen mit mehreren Frauen eingegangen sind, gegen die Idee, indem sie Kinderrechte vorschieben oder mit dem biologistischen Argument ins Gefecht ziehen, das sei wider "die Natur". Von solcher Seite ist solche Beweisführung nicht nur abstrus, sondern entlarvend, zeigt sie doch, dass ihr Ziel nicht die Beseitigung von Geschlechterungleichheiten ist, sondern der Erhalt der patriarchalen Dominanz. Für Zeitungen und Fernsehkanäle ist die ganze Auseinandersetzung natürlich wie ein Geschenk, das unerwartet vom Himmel fiel. Expertendiskussionen wurden veranstaltet und Talkshows bevölkert, Meinungskommentare, juristische Expertisen und theologische Warnungen folgten einander in rascher Folge. In den digitalen Netzwerken rumort es. Die Werbeeinnahmen stiegen, Clicks und Quoten klettern bekanntlich in schwindelnde Höhen, wenn Sex oder auch nur die Andeutung davon mitgeliefert wird.

Seither tourt der Gedanke der Polyandrie durch die Medien des afrikanischen Kontinents, und immer wieder poppen rührende Geschichtchen über derartige Beziehungen auf, wobei zwei oder drei Männer treuherzig versichern, wie sehr sie ihre geteilte Partnerin lieben.

Die Recherche geht allerdings nicht so weit zu überprüfen, ob das Dreier- oder Vierergespann nach ein paar Monaten noch immer auf rosa Wölkchen schwebt oder ob die Eifersucht des einen oder anderen Mannes den Haussegen inzwischen in Schieflage geraten ließ. Und sie lässt auch offen, wie der Sexualkalender gemanagt wird.

Eine seltene soziale Praxis

Bevor nun gesetzte weiße Retromenschen angeekelt weiterblättern: In diesen Medienberichten und in den ganzen Wortgefechten und Polemiken wird einiges missverstanden. Auch wenn so eine Ehekonstellation ungewöhnlich scheint, Polyandrie ist zwar eine seltene soziale Praxis, aber sie ist nichts Neues, wurde gelebt in vorindustriellen Gemeinschaften auf allen Kontinenten und kommt heute noch vor bei Minderheiten in vielen Ländern, etwa in den Himalaja-Regionen (Tibet, Nepal, Nordindien), Südindien, Nordnigeria, bei Inuit in Grönland und Kanada, in Alaska, Südamerika, China und anderswo. Aber solche Geschlechterasymmetrien werden unter ganz anderen Voraussetzungen legitimiert, als die anzüglichen Andeutungen und spöttischen Sprüche der öffentlich geführten südafrikanischen Diskussionen vermuten lassen.

Polyandrie als Lebensform existiert bei schwierigen äußeren Umständen wie ökologischen Problemlagen durch das Zusammenwirken von Ressourcenknappheit und weiblichen Reproduktionskräften. Wenn sich mehrere Männer eine Frau teilen, bleibt die Geburtenzahl einer Gemeinschaft niedriger als bei Monogamie oder Polygynie. Die Vaterschaft wird dabei von Ort zu Ort unterschiedlich gehandhabt, wobei der biologischen Verwandtschaft keine oder wenig Bedeutung beigemessen wird. Entweder sind alle Ehemänner soziale Väter aller Kinder (korporative Polyandrie) oder es übernimmt – wiederum nach unterschiedlicher Regelung – für jedes Kind ein Ehemann die soziale Vaterschaft, der nicht zwingend der Genitor sein muss (nonkorporative Polyandrie).

Am häufigsten verbreitet dürften derart Heiratsallianzen in Tibet sein, in allen Regionen. Und dort sind sie auch gut erforscht, wobei Statistiken demografische Entwicklungen untermauern. Sie kommen vor in bäuerlichen Haushalten, wenn harte Lebensbedingungen herrschen, nicht in den Städten.

Fraternale Polyandrie ist die Norm, eine Frau ehelicht zwei oder mehrere Brüder, mit dem Ältesten als Haushaltsvorstand, die Jüngeren müssen sich unterordnen. Doch im häuslichen Alltag gibt es oft Spannungen. Zwar genießen im Idealfall alle Partner gleiche Behandlung durch die Frau und gleichberechtigten sexuellen Zugang, dies ist aber in der Praxis schwer zu verwirklichen, und so mancher Bruder ist frustriert.

Lüsterne Erwartungshaltung

Wenn eine Gesellschaft für Frauen den sexuellen Zugang zu mehreren Männern legalisiert, führt dies zu einer hohen Anzahl von Frauen ohne Mann und ohne Kinder. Deswegen entstehen in Tibet zwischen unzufriedenen verheirateten Brüdern und ledig gebliebenen Frauen außereheliche Liaisonen, die sozial gebilligt werden. Doch bleibt deren Kinderzahl klein, einerseits wegen der erforderlichen Diskretion und fehlender Privatheit, andererseits weil Kinder für Väter teuer sind, sie tragen Verantwortung, egal ob ein Kind ehelich oder außerehelich geboren ist.

Polyandrie steuert demnach demografische Entwicklungen, Bevölkerungszunahme wird verhindert oder eine Bevölkerungsabnahme eingeleitet. Nach dem Tibetologen Melvyn C. Goldstein ist dieses Ehemuster ein sensibler kultureller Mechanismus, der Populationszahlen, Ressourcenverfügbarkeit und ökonomische Produktivität aufeinander abstimmt. Es geht um Kapital an Land und Vieh und deren Erhalt in Familienbesitz, der nicht durch Erbteilung zersplittert werden soll, weil dann die Ernährung und das Überleben der Gruppe nicht mehr gesichert sind. Auch bei einigen Minderheiten in Nordindien, Nepal und Sri Lanka (bis in die 1950er-Jahre) ist belegt, dass derartige Familienarrangements die Fragmentierung von Landbesitz verhindern.

Interessant in den Fachjournalen sind die Diskussionen über einen vorherrschenden androzentrischen Bias in der Faszination für das Thema. Denn westliche, jüdische, christliche, islamische, auch asiatische – patriarchale – Traditionen missbilligen sexuelle Mehrfachbeziehungen von Frauen, nicht jedoch von Männern.

Die lüsterne Erwartungshaltung besteht darin, anzunehmen, dass ein polyandrisches Heiratsschema strukturell eine spiegelverkehrte polygyne Geschlechterkonstellation darstelle. Mitnichten. Sie bedeutet eher nicht, dass die Frau ihre Mehrfachwahl aus Zuneigung trifft. Es sind immer noch Männer, die Macht und Kontrolle in Händen halten, die polyandrische Situationen zur Wahrung eigener Interessen zu handhaben wissen. Darauf hat schon Prinz Peter von Griechenland und Dänemark hingewiesen, der das Standardwerk A Study of Polyandry (1963) verfasste, um das bis heute nicht herumkommt, wer sich mit dem Thema befasst. In der einschlägigen Literatur wird der adelige Anthropologe, der seinen hohen Rang in der griechischen Thronfolge durch Heirat mit der falschen Frau verspielte, nur Prinz Peter genannt, weil ohnedies alle wissen, wer gemeint ist.

Es setzte ein Kreislauf ein

Eine weitere Annahme besagt, dass ein Recht auf Mehrfachehen für Frauen verbunden sei mit größerer Autorität und Autonomie in häuslichen und gesellschaftlichen Belangen. Dies halten die Sozialanthropologen Walter H. Sangree und Nancy E. Levine, die polyandrische Familienarrangements in mehreren Gesellschaften untersuchten, für einen voreiligen Schluss. Solche Konstellationen sind eher das Ergebnis von Druck als von freier Entscheidung, sie sind abhängig von äußeren Umständen, und wenn diese anders wären, würden weder Männer noch Frauen so eine Eheasymmetrie wählen. Wenn sich die Bedingungen verbessern, wird zur Monogamie gewechselt, dann erhöht sich die Kinderzahl, es setzt ein Kreislauf ein, die Ressourcen werden wieder knapp und so fort.

Weiters gilt ein unausgeglichenes Geschlechterverhältnis, das Männer zahlenmäßig begünstigt, – also Frauenmangel – als eine der Hauptursachen für Polyandrie. Besser eine geteilte Frau als keine Frau, so die Anthropologen Katherine Starkweather und Raymond Hames, die außerhalb der Himalaja-Regionen weitere 53 Gesellschaften verglichen, die Mehrfachehen von Frauen erlauben. Polyandrie ist die soziale Antwort auf einen Überschuss an Männern, sie regelt deren sexuelle Versorgung.

Dieser kann verursacht sein durch Polygynie oder auch durch weiblichen Infantizid, der im Kontext von Polyandrie von einigen südamerikanischen Gruppen und auch bei Inuit als Mittel der Bevölkerungskontrolle belegt ist, wenn das karge Ressourcen- und Nahrungsangebot eine Reduzierung der Geburtenzahl erzwang. Nicht aus sexistischen Gründen – allerdings mussten eher weibliche Säuglinge für das Gemeinwohl sterben –, sondern weil die Reproduktionszahl über Frauenkörper regulierbar ist.

Sozialanthropologisch kann demnach als eine Hauptursache für Polyandrie ein unfreundlicher Lebensraum ausgemacht werden, der das Überleben ohne Anpassung der Sozialstruktur nicht oder zeitweilig nicht gewährleistet. Darauf können alle anderen Gründe reduziert werden, die in der Literatur sonst noch diskutiert werden wie der genannte Frauenmangel oder der Drang, Besitzzersplitterung durch Erbteilung zu verhindern. Jedenfalls geht es dabei weder um eine rechtliche Gleichstellung der Geschlechter und noch weniger um das Ausleben von sexuellen Fantasien, wie die Debatte in Südafrika suggeriert.

Polyandrische Konstellationen sind in keiner Gesellschaft die ausschließliche Eheform, gleichzeitig gibt es monogame und/oder polygyne Beziehungen. Aber während Polyandrie ein Zeichen von Knappheit ist, ist Polygynie ein Zeichen von Überfluss und wird von der Gesellschaft, in der sie gelebt wird, als statusverleihend betrachtet – für den Mann und damit zugleich für die mit ihm verheirateten Frauen, weil sie an seinem Wohlstand und seinem Ansehen teilhaben. Polyandrie hingegen ist ein Ausdruck von Armut, einem Mangel an Ressourcen, an Land, an Vieh oder auch an Frauen. Statusverleihend ist sie für keinen der Beteiligten.

Dem Frauenmangel durch Legalisierung polyandrischer Ehemuster begegnen

Indes unterliegen die Gesellschaften, die Polyandrie praktizieren, Prozessen der Veränderung, solche Heiratsregime gelten zunehmend als veraltet, werden behindert durch nationale Gesetzgebungen, Zahlen sind rückläufig. Auf lokaler Ebene wird beschlossen, solche Geschlechterbeziehungen aufzugeben, wenn es die Umstände erlauben (Irigwe/Nordnigeria, Nair und Toda / Südindien). In Nepal sind sie verboten, aber wegen ökonomischer Zwänge dennoch vorhanden.

Es könnte nun die Frage auftauchen, ob in Ländern, die wegen der Abtreibung weiblicher Föten einen männlichen Geburtenüberschuss verzeichnen, etwa in China und Indien, dem Frauenmangel durch Legalisierung polyandrischer Ehemuster begegnet werden könnte. In einem Interview mit der renommierten Zeitschrift The Atlantic bezweifeln dies die Anthropologen Starkweather and Hames. Denn bisher ist Polyandrie verortet in bäuerlichen und indigenen, relativ egalitären Gesellschaften mit geringer arbeitsmäßiger Differenzierung ohne ausgetüftelte Klassenstrukturen, Hierarchien oder Bürokratien. China und Indien sind jedoch komplexe Gefüge mit verschachtelter gesellschaftlicher Stratifizierung, hoher beruflicher Spezialisierung und enger Verstrickung in Globalisierungsprozesse.

Incels ins Metaversum

Schon das feudale alte Europa der Vergangenheit hatte für überschüssige männliche Personen Lösungen parat. Um Erbteilung zu vermeiden und um Grund und Boden und Kapital zusammenzuhalten, wurden zweite und dritte Söhne und Männer mit geringen kompetitiven Fähigkeiten in den Krieg, in die katholische Kirche, in die Schifffahrt, in die Knechtschaft oder in die Kolonien geschickt. Auch jetzt schaffen Industrien Angebote für Incels ("involuntarily celibate"), eine Subkultur unfreiwillig sexuell Abstinenter. Sie mögen wohl auch vielen wenig verlockend erscheinen – Drogen und Spielautomatenhallen, Pornografie, Laufhäuser, sextouristische Betriebsstätten in Billiglohnländern und ähnliche Räume des zeitweiligen Vergessens, real oder virtuell, mit rein männlichen Abteilungen (Mannosphäre), in denen mit den Ingredienzien Sexismus, Antifeminismus, Maskulinismus und Machogehabe, auch Hass und Gewalt, Männlichkeiten konstruiert werden, die für Außenstehende eher schon verzweifelt anmuten. Das Zuckerberg-Versprechen, im Metaversum zu versinken, scheint da gerade noch als das kleinere Übel.

Langfristig stabile, sozialverträgliche Lösungen können eigentlich nur ausgewogene Geschlechterverhältnisse bringen, in China, Indien und anderswo. Es bedarf bevölkerungspolitischer Maßnahmen, die demografische Fehlentwicklungen korrigieren. Die südafrikanische Regierung hat sich inzwischen gegen die Anerkennung der Polyandrie ausgesprochen. Sie sei nicht weit genug verbreitet, um eine Legalisierung zu rechtfertigen.

Aber man darf gespannt sein, wie das neue Gesetz das Gewohnheitsrecht der Polygynie mit dem Grundsatz der Geschlechtergleichheit, den die Regierung des multiethnischen, multilingualen und multireligiösen Landes unentwegt predigt, in Einklang bringen wird. Es könnte auch für andere Staaten, die Mehrfachehen für Männer erlauben, wegweisend sein.(Ingrid Thurner, 13.2.2023)