Der Jahrestag von Wladimir Putins Überfall auf die Ukraine nähert sich. Die EU-Spitze tagt in Kiew und sendet so ein Signal der Solidarität. Putin veranstaltet eine Stalingrad-Gedächtnisfeier und droht Deutschland, wenn es Leopard-Panzer an die Ukraine liefert.

Viel Symbolik. Von Putins Seite ausschließlich falsche Symbolik. In Stalingrad zerbrach Hitlers völkermörderischer Überfall auf die Sowjetunion. Aber niemand hat Putins Russland angegriffen.

Putin missbraucht Stalingrad, um seinen eigenen Aggressionskrieg zu rechtfertigen. Es gibt immer noch genug "Putinversteher" in Europa, vor allem unter rechtsextremen Parteien, die sein erstickend autokratisches System gerne auf uns übertragen würden. Es gibt allerdings auch genügend wohlmeinende und besorgte Menschen, die sich fragen, wie das alles enden wird. Ihnen sei gesagt, dass man Putin wirklich verstehen muss. Nämlich was seine wahren Motive sind.

Der russische Präsident Wladimir Putin bei der Stalingrad-Gedächtnisfeier.
Foto: IMAGO/ITAR-TASS/Dmitry Lobakin

Putin geht es nicht allein darum, die nach Westen strebende Ukraine "heim ins Reich" zu holen, sondern es geht ihm um eine fundamentale Auseinandersetzung mit dem Westen selbst. Den hält/hielt er für schwach, uneinig und dekadent, reif für eine Ablöse durch ein starkes, den "traditionellen Werten" verbundenes Russland. Michael Thumann, jahrzehntelang Korrespondent der deutschen Zeit in Moskau, hat das in einem neuen Buch voller tiefer Einsichten beschrieben (Revanche. Wie Putin das bedrohlichste Regime der Welt geschaffen hat, Verlag C. H. Beck). Putin empfinde den Zerfall der Sowjetunion als tiefe Kränkung und will Rache nehmen für den geschrumpften russischen Nationalstaat (minus Ukraine und baltische Staaten) nach 1991.

Thumann zeichnet die Vorbereitungshandlungen nach (Deutschland und Österreich gezielt vom Gas abhängig machen). 2021 dachte Putin, die Zeit sei reif, die Nato vom Kontinent zu vertreiben. Das Ultimatum von Dezember 2021, in dem das Ende der Erweiterung, der Abzug der (geringen) Nato-Streitkräfte aus Osteuropa und der Rückzug der US-Atomwaffen aus Westeuropa gefordert wurden, war das Vorspiel zum Angriff auf die Ukraine. Das Endziel war eine russische Einflusssphäre "von Lissabon bis Wladiwostok", wie es ein Putin-Vertrauter im Jänner 2021 sagte.

Sanktionen verschärfen

Putin hat sich katastrophal verschätzt. In seiner Isolation überschätzte er die eigenen Streitkräfte und unterschätzte den Widerstandswillen der Ukraine – und des Westens. Dennoch wird er weitermachen, weil er immer noch glaubt, dass der Westen die Ukraine fallenlassen wird. "Verhandeln" kann man mit ihm schon – nur nicht über Substanzielles, nämlich seinen Anspruch auf Dominanz in Europa.

Tatsächlich ist die Aussicht auf einen endlosen Krieg deprimierend und furchteinflößend. Aber, und da sind sich alle Kenner der Situation einig, Russland darf nicht siegen. Um den Krieg abzukürzen, empfiehlt in der einflussreichen US-Zeitschrift Foreign Affairs der frühere US-Botschafter in Moskau, Michael McFaul, die bisherige kleinweise militärische Unterstützung der Ukraine aufzugeben und dazu überzugehen, sofort und massiv die modernsten Waffen zu liefern und die Sanktionen dramatisch zu verschärfen. Das müsse rasch geschehen, "sodass die Ukraine den Krieg in diesem Jahr entscheidend gewinnen kann".

Viele werden sich bei diesem Gedanken unbehaglich fühlen. Aber wenn man Putin wirklich versteht, muss man zu dem Schluss kommen, dass man seinen Plänen unbedingt Einhalt gebieten muss. Wenn wir Wert auf ein Europa nach unserem Lebensmodell legen. (Hans Rauscher, 4.2.2023)