Die Allmacht der Diktatoren ist die größte Gefahr für die liberale Demokratie. Deshalb sollte das neue Buch Revanche – Wie Putin das bedrohlichste Regime der Welt geschaffen hat des langjährigen Moskau-Korrespondenten der Zeit Michael Thumann eine Pflichtlektüre sein. Seine Diagnose ist düster: Vom autoritären Nationalismus getrieben, habe Wladimir Putin Russland und die Welt systematisch und zielgerichtet in die größte Krise, in die schlimmste militärische Konfrontation seit dem Zweiten Weltkrieg gestürzt. Der Ausgang der Krise, auch das Überleben der Menschheit hänge vor allem von einem Mann ab.

Vor diesem Hintergrund muss man auch die Debatte über die westliche Haltung sehen. Heute bestreitet kein ernst zu nehmender Beobachter, dass die Illusionen westlicher Politiker und Geschäftsleute Putin geholfen haben, seine Macht auszubauen und nach der Annexion der Krim das Nachbarland Ukraine zu überfallen.

Wladimir Putin hat Russland und die Welt zielgerichtet in die größte Krise seit dem Zweiten Weltkrieg gestürzt.
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Die militärische und finanzielle Hilfe des Westens spielt bei der Widerstandsfähigkeit der Ukraine eine entscheidende Rolle. Deshalb ist die Kritik an der langsamen und wenig überzeugenden Entscheidungsbildung in der deutschen Koalitionsregierung verständlich.

Das Zögern des deutschen Bundeskanzlers Olaf Scholz, der Lieferung von Kampfpanzern zuzustimmen, und der viel zu späte Rücktritt seiner unfähigen Verteidigungsministerin haben national und international viel Vertrauenskapital gekostet. Putins wichtigste Waffe ist die Furcht, die Einschüchterung des Westens durch nukleare Erpressung. Der Diktator spielt auf Zeit und auf die Spaltung des Westens.

Verklärtes Russlandbild

Die Wirtschaftssanktionen wirken, vor allem mittel- und langfristig. In einem Wiener Vortrag wies der führende Wirtschaftsexperte Sergej Guriev auf die Unzuverlässigkeit der offiziellen russischen Statistiken hin und hob den Rückgang des Einzelhandels (zehn Prozent) hervor. Man hätte sofort nach Kriegsbeginn ein Ölembargo einführen sollen.

Angesichts der Gratwanderung von Scholz in der Zusammenarbeit mit den USA wirft ihm Chefredakteur Eric Gujer in einem außerordentlich scharfen Leitartikel der Neuen ZürcherZeitung vor, er sei nur ein Kulissenschieber, bei dem die von ihm proklamierte Zeitenwende eben eine PR-Floskel sei und nicht mehr!

Dass die Mischung aus tief verwurzelten antiamerikanischen Vorurteilen und einem seit dem Zusammenbruch Hitlerdeutschlands gewachsenen Pazifismus vermischt mit Schuldgefühlen gegenüber Russland noch immer stark bleibt, zeigen die Umfragen, wonach nur 54 Prozent der Deutschen die Lieferung von Kampfpanzern unterstützen. Ein verklärtes Russlandbild ist trotz des Bekenntnisses zur Zeitenwende auch spürbar in der deutschen Sozialdemokratie.

Der Umgang mit dem von Putin geschaffenen "nach innen repressiven, nach außen aggressiven Regime" (so Thumann) wird eine Kernfrage für die Außenpolitik der EU und der Vereinigten Staaten bleiben. Man darf aber die Tatsache nicht übersehen, dass Russlands Klientenstaaten wie Ungarn in der EU einen sofortigen Waffenstillstand fordern und gegen die Sanktionspolitik agitieren. Putin-Freund Viktor Orbán ging am Samstag sogar so weit, die Ukraine als Afghanistan, als ein Niemandsland zu bezeichnen. (Paul Lendvai, 31.1.2023)