Hinweistafel in der Gedenkstätte Ebensee.

Foto: Markus Sulzbacher

1995: Die Welt feiert 50 Jahre Ende des Zweiten Weltkriegs und die Befreiung der nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager. In der Schulbibliothek stoße ich auf ein amerikanisches Nachrichtenmagazin. Auf der Titelseite sind in Lumpen gekleidete, ausgemergelte KZ-Häftlinge am Tag ihrer Befreiung, dem 6. Mai 1945, zu sehen.

Ich bin 17 Jahre alt und gerade ein paar Monate als österreichischer Stipendiat an einer internationalen Schule auf Vancouver Island. Bei der Lektüre der Reportage ergreift mich ein Gefühl der Fassungslosigkeit: Das Bild stammt aus Ebensee, das ganz in der Nähe meiner Heimatgemeinde liegt. Unzählige Male war ich als Kind auf dem Weg zu den Großeltern am Straßenschild "zur Gedenkstätte" vorbeigefahren.

Prägender Moment

Doch wem oder was dort gedacht werden sollte, wusste ich nicht. Weder zu Hause noch in der Schule hatte mir jemand vom Konzentrationslager, einem Außenlager von Mauthausen, berichtet. Niemand erzählte, unter welchen Bedingungen Häftlinge dort Stollen für die Rüstungsproduktion in den Berg treiben mussten. Ich schäme mich in diesem Moment zutiefst, dass ich nach Kanada kommen musste, um das zu erfahren. Dieser Moment war prägend, und nach meinem Schulabschluss habe ich mich unter anderem deshalb entschieden, den Zivildienst an einer Holocaust-Gedenkstätte zu leisten.

Ich musste wieder an diese Begebenheit in Kanada denken, als ich vergangene Woche aus dieser Zeitung erfuhr, dass ein ebenfalls aus der Region stammender Journalist vor ein paar Wochen aus einem Ebenseer Lokal geworfen wurde. In einer Diskussion mit dem Wirt hatte er gefordert, die Erinnerungskultur weiter hochzuhalten. Nennen Sie mich naiv, aber mir wurde plötzlich klar, wie viel mehr noch zu tun sein wird, um auch kommenden Generationen die Lehren aus Krieg, Faschismus und Shoah zu vermitteln. Die letzten Überlebenden des Holocaust verstummen gerade. Die Rufe jener, die die Geschichte einfach ruhen lassen wollen, werden wieder lauter, "autochthone" Rassisten scheinen Aufwind zu bekommen, und leider macht sich auch in manchen migrantischen Communitys Antisemitismus breit.

Kein leeres Ritual

Wie können wir uns am besten dafür einsetzen, dass wirklich niemals vergessen wird? Wie sicherstellen, dass Gedenken nicht zum leeren Ritual verkommt? Wie erreichen wir kommende Generationen von Österreicherinnen und Österreichern und jene, die hier eine neue Heimat finden, um ihnen zu erzählen, wohin Rassenwahn, Antisemitismus und Nationalismus führen? Wir werden weiter für eine Kultur der Erinnerung streiten müssen, nicht nur im Salzkammergut. Im Jahr 2024 wird die Region übrigens "Europäische Kulturhauptstadt".

Dem Organisationskomitee wünsche ich den Mut, bei allem Gegenwind auch jenen Raum zu geben, die sich unermüdlich für eine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus engagieren, wie zum Beispiel die vielen Unterstützer des Vereins und Zeitgeschichte-Museums Ebensee. Die Geschichte meiner Heimat steht in ihrer ganzen Vielschichtigkeit, vom KZ Ebensee über die Arisierung jüdischen Besitzes im Ausseerland bis hin zur Widerstandsbewegung im Toten Gebirge, als Spiegel für unser ganzes Land. Ein Spiegel, der nicht blind werden darf. (Philippe Narval, 6.2.2023)