"Lieber verrecken als Yoga machen", schreibt Virginie Despentes. Harten Drogen schwören ihre Figuren aber ab.

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Die Schauspielerin Rebecca Latté? Nicht nur alt sei sie geworden, sie "ist auch auseinandergegangen, verlebt, schlechte Haut, ein schmuddeliges, lautes Weibstück", findet Oscar und postet das. Briefromane sind eine alte Nummer, der E-Mail-Roman ist auch nicht mehr ganz jung. Juli Zeh und Simon Urban haben ihn jüngst mit Whatsapp-Nachrichten aufgepeppt. Was sie in Zwischen Welten an Zeitdiagnose rund um Cancel-Culture mäßig erfolgreich versuchen – das schafft Virginie Despentes bravourös in ihrem neuen Instagram-Roman Liebes Arschloch. Mit diesen Worten leitet Rebecca ihre Antwort an Oscar ein. Er sei ein "Angsthase", wolle bloß Aufmerksamkeit. Die Eskalation zum Finale: "Ich hoffe jetzt nur, dass deine Kinder von einem Lastwagen überfahren werden."

Da steckt alles drin, weswegen die mit ihrem Debüt Fick mich 1994 zur Skandalautorin erklärte Despentes (53) inzwischen von bildungsbürgerlichen Lesern verehrt und von der Kritik gefeiert wird: etwas Glamour, viel Grind und Widerstand, die Übertretung sozialer Normen, pralle Gegenwart, Gewalt, Sex.

Sie liest der französischen Gesellschaft auch diesmal wie in Vernon Subutex die Leviten – und der gefällt es. Doch wird sich Liebes Arschloch anders entwickeln als Despentes bisherige Bücher. Corona hat insofern bei Despentes Spuren hinterlassen, als sie für die von der Pandemie geplagten Leser zur Abwechslung ein optimistisches Buch schreiben wollte, sagt sie. Die Pöbelei schlägt um, schon in der nächsten Nachricht entschuldigt sich Oscar. Rebecca war eine Freundin seiner Schwester, als sie Kinder in einem prekären Viertel von Nancy waren.

Durchlässige Fronten

Despentes stammt aus dem gleichen Viertel, sie ist selbst soziale Aufsteigerin. Zuletzt gehörte sie sogar der Académie Goncourt an, die den Prix Goncourt vergibt, selbst wird sie laufend als Kandidatin für den renommierten Preis gehandelt.

Auch Rebecca und Oscar haben es geschafft. Andererseits kommen nun, da sie auf die 50 zugeht, kaum noch Rollenangebote. Beide sprechen Drogen zu. Und er steckt in einem MeToo-Skandal, den die junge Ex-Verlagsangestellte Zoé, auch wenn er es anfangs anders sieht, berechtigt gegen ihn losgetreten hat. Despentes bildet im Kleinen die Fronten zu MeToo und Feminismus nach. Zoé, die sich als "radikale Feministin" definiert, steht nicht nur dem mittelalten weißen Mann Oscar, sondern auch Rebecca gegenüber, die als feministische Ikone der Ertragen-und-aushalten-Generation angehört. Zwar behält sie sich Skepsis vor, begeistert sich aber zunehmend für die weniger duldsame Feminismusdefinition der Jungen.

Ihren Protagonisten hängt Despentes zwar viele verbreitete und manch aneckende Meinung um, sie suspendiert aber die Logik der Shitstorms und Echokammern, und bald durchziehen Offenheit, Vertrauen, Zartheit den Roman auf berückende Weise. Sogar dem außenstehenden Leser geht das Herz auf. Despentes plädiert eindrücklich für mehr als 140 Zeichen pro Nachricht. Im gemeinsamen Lecken ihrer Wunden, indem sie einander das Herz ausschütten, beginnen Rebecca und Oscar ihre Muster zu hinterfragen. Motto: Sprich nur ein Wort, so wird deine Seele gesund! Die dialogische Struktur als Chat zweier Ich-Erzähler wird zum Erkenntnismotor des Textes, der im Wechsel der Nachrichten ständig zwischen Innensicht und Außensicht springt.

Pageturner mit Knalleffekt

Liebes Arschloch ist ein Pageturner. En passant durchmisst die Autorin mit Sätzen, die knallen, gesellschaftliche und private Schlachtfelder. Gesundheitslifestyle? "Lieber verrecken als Yoga machen." Die Vater-Mutter-Kind-Familie? Ein "Konzentrationslager fieser Neurosen". Künstlerbefindlichkeiten? "Mein Ego ist meine Geschäftsgrundlage."

Dass alles zu einem guten Ende kommt, daran ist auch eine Selbsthilfegruppe schuld. Dass die sich per Videocall trifft, liegt indes daran, dass Frankreich nach einem Drittel der gut 330 Seiten in den Lockdown geht. Auf Französisch ist Cher Connard voriges Jahr erschienen, inzwischen wirken die Corona-Referenzen recht dröge. Despentes pfropft Masken und Impfstatus aber nicht einfach einer Handlung drauf, sondern nimmt Wahrnehmungen dieser Zeit wie den feinen Unterschied zwischen jenen, die sich Essen nach Hause liefern lassen, und jenen, die als Lieferanten trotz Gefahr schuften müssen, als Kristallisationspunkt einer Anklage der kapitalistischen Verhältnisse. Noch ein Satz: "Was gut ist fürs Herz, ist schlecht für die Wirtschaft, und umgekehrt."

Auch wenn sich hier zwei Figuren in privilegierten Positionen unterhalten und das Kulturblasenhafte daran zuweilen nervt, besticht Liebes Arschloch mit dem Gefühl, einem breiteren Gesellschaftsroman zu folgen. Die kaputte, warme, kämpferische Stimmung erinnert an Michel Houellebecqs Vernichten. Despentes ist weiter unzufrieden, wütend und Punk, aber sie erzählt es diesmal anders. Die frohe Botschaft, dass Reden hilft, kauft man ihr gerne ab. (Michael Wurmitzer, 9.2.2023)