Brüder sind bester Märchenstoff, das wussten schon die Gebrüder Grimm.

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Wer sich auf eine kleine Feuilletonmeditation über das Thema "Brüder und Literatur" einlässt, weiß natürlich (oder sollte wissen), dass er sich auf uferlosem Terrain bewegt. Mit Kain und Abel hat die ganze Geschichte frühzeitig Formen angenommen, und nicht die lieblichsten. Vielleicht gibt es weniger Bücher ohne Brüder (BOBs) als solche, in denen Brüder eine Rolle spielen, genau kann das niemand sagen, genau hat niemand nachgezählt. Fakt ist, dass Bruderbeziehungen in all ihren Facetten als literarisches Motiv so häufig sind wie Sand am Meer. Gelegentlich dringen Brüder fürwitzig an prominente Stelle vor, nämlich schnurstracks in die Titel von Büchern: Die Brüder Karamasow, Joseph und seine Brüder, Diehundert Brüder und so fort. Und: Es kommt auch vor, dass Schriftsteller Brüder haben. Manchmal sind sie sogar zur selben Zeit literarisch tätig (Thomas und Heinrich Mann, siehe oben), oder sie arbeiten, noch intensiver, gar im Verbund.

Bierbruder, Blutsbruder, Saufbruder

Den Franzosen fallen hier sofort die Goncourt-Brüder ein, die vielleicht gloriosesten Klatsch- und Tratschbasen aller Zeiten. Den Deutschen hingegen, neben den Manns, die Gebrüder Grimm mit ihrem ehrfurchtgebietenden Deutschen Wörterbuch. Ihm ist, neben allem anderen, auch alles Wissenwerte über das Wort "Bruder" zu entnehmen. Hier lernt man zum Beispiel, dass die Verbrüderung von einander "durch die Geburt fremden Menschen" ("Wahlbrüderschaft") ein seit unvordenklichen Zeiten gepflogener Brauch ist.

Man lernt, dass mit "Brüdern" auch "die Testikel" gemeint sein können oder dass im Deutschen Zusammensetzungen von "Bruder" sonder Zahl existieren. In der Grimm-charakterischen Kleinschreibung seien angeführt: "amtsbruder, bierbruder, blutsbruder, dutzbruder, halbbruder, herzbruder, klosterbruder, kreuzbruder, milchbruder, mitbruder, nollbruder, saufbruder, schnapsbruder, schulbruder, schwärmbruder, stallbruder, stiefbruder, waffenbruder, zechbruder, zwillingsbruder". Eine beeindruckende Fülle.

Das Leben von William und Harry gibt auch einiges her.
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Unbewussten Sphären

Wie zu erwarten spielen Brüder auch in den Kinder- und Hausmärchen, dem anderen Buchhit der Grimms, eine große Rolle: Bruder Lustig, Des Teufels rußiger Bruder, Die drei Brüder, Die vier kunstreichen Brüder. Sodann Die zwei Brüder, das längste Märchen der Grimm-Sammlung (zwanzig Seiten in der Ausgabe des Deutschen Klassiker Verlags). Die zwei Brüder haben es nie zur Popularität von Dornröschen, Schneewittchen oder Hänsel und Gretel gebracht, sind aber allemal der Lektüre wert und schürfen tief in unbewussten Sphären brüderlicher Beziehungen.

Der eine Bruder hört, dass der andere von der jungen Königin für ihren Gemahl gehalten wurde und an ihrer Seite aß und in ihrem Bett schlief: "Da ward er so eifersüchtig und zornig, dass er sein Schwert zog und dem Bruder den Kopf abschlug. Als dieser aber tot dalag, und er sein rotes Blut fließen sah, reute es ihn gewaltig, und er sprach: ,mein Bruder hat mich erlöst, und ich habe ihn dafür getötet!‘ und jammerte laut." Glücklicherweise wird der getötete Bruder durch Zauberkraft wieder zum Leben erweckt und der Beweis erbracht, dass er zwar im Bett der Schwägerin, nicht aber mir ihr geschlafen hat. "Da erkannte er, wie treu sein Bruder gewesen war."

Über Rivalität wussten auch Heinrich und Thomas Mann Bescheid.
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Märchenbestseller

Eifersucht, Sexualneid, Jähzorn, aber auch Liebe und Solidarität. Der eine oder andere Aspekt der momentan medial am meisten verwursteten Königskinderstory findet sich bei den Grimms vorweggenommen. Selbstverständlich gibt es bei ihnen auch frühzeitig verstorbene Mütter und böse Stiefmütter in Hülle und Fülle.

Schade nur, dass die Gebrüder Grimm den potenziellen Märchenbestseller "William und Harry" nicht kennen und daher auch nicht überliefern konnten.

Ein kurzer Nachklapp zum Thema "Schriftsteller und ihre Brüder". Dem Buch Was geschah mit Schillers Schädel? Alles, was Sie über Literatur nicht wissen des deutschen Kulturredakteurs Rainer Schmitz entnehme ich diese hübsche Geschichte: Alois Böll, ein Schreiner, wurde von seinem Bruder, dem Nobelpreisträger Heinrich Böll, finanziell über Wasser gehalten, nachdem er Heinrich "angedroht" hatte, selbst ins schriftstellerische Fall überzuwechseln. Heinrich zahlte, Alois schwieg. Das Einzige, was der Nachwelt von Alois Böll literarisch erhalten bleiben wird, ist daher eine Erzählung für die Zeitschrift Twen. Ob sie für einen Nobelpreis ausgereicht hätte? Das ist aller Wahrscheinlichkeit nach eher fraglich. (Christoph Winder, 11.2.2023)