Nach ihnen ist der wichtigste französische Literaturpreis, der Prix Goncourt, benannt: die Brüder Edmond und Jules Goncourt.

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Glück und Unglück der Individualität beginnen mit dem Namen. Es hat sich eingebürgert, dass Menschen bald nach der Geburt getauft werden. Nicht die religiöse Taufe mit Wasser ist damit gemeint, sondern einfach der Moment, in dem ein Kind einen Namen bekommt.

Kleinste Teilmenge des Ganzen

Zum Beispiel Edmond. So hieß der ältere der Brüder Goncourt, geboren 1822, acht Jahre später bekam er einen Bruder, Jules. In der Geschichte der Literatur und der Künste haben die beiden auch deswegen einen besonderen Rang, weil sie vielleicht die stärkste Personalunion darstellen. Schreiben ist ja ein höchst individueller Akt, die Goncourts haben aber immer zu zweit geschrieben, sie waren so wenig auseinanderzudividieren, dass ihr Kollege, der große Gustave Flaubert, sie einmal als "Julesmond" bezeichnet hat – auch eine Taufe, und zugleich vielleicht eine kleine ironische Spitze. Denn "Julesmond", das klingt im Französischen ein bisschen nach "tout le monde", und das wäre das Gegenteil von Individualität oder Duvidialität. "Tout le monde", das sind nämlich alle zusammen, die ganze Welt. Die Goncourts wären demnach die kleinste Teilmenge des Ganzen, diesseits der Vereinzelung, die natürlich Grundbedingung und Ausgangspunkt bleibt.

Über Flaubert heißt es in Alain Claude Sulzers Roman Doppelleben: "Er strotzte förmlich vor Kraft und Selbstgewissheit, Körper und Geist, er und die Welt waren eins, er hatte es nicht nötig, ein anderer als er selbst zu sein, er schwamm in einem Fluss aus Worten, die sich unaufhaltsam ins Meer ergossen." Den Goncourts gegenüber verhält er sich wie ein Vampir: "Ich habe das Gefühl, als ginge der Lebenssaft meiner dahinsiechenden Freunde auf mich über." Sulzer spricht damit einen zentralen Umstand des Doppellebens der Brüder Goncourt an, denen er mit seinem Roman ein vielschichtiges Porträt gewidmet hat: Das "alte Ehepaar", das Edmond und Jules darstellten, wurde relativ früh auseinandergerissen. Denn Jules, der Jüngere, starb 1870, während Edmond noch bis an die Schwelle des 20. Jahrhunderts lebte, bevor er 1896 ebenfalls seiner Lebensaufgabe entbunden wurde.

Junggesellenhaushalt

Bei Sulzer geht es von Beginn an entscheidend um diese Differenz an Jahren. Der Roman beginnt mit einem Unfall, der wie eine Vorwarnung wirkt, bei dem aber nicht Jules schwer verletzt wird, sondern Edmond, der beinahe das Augenlicht verliert. Es geht glimpflich aus, aber der erste Suspense ist gesetzt. Jules holt sich dann bei einer Prostituierten Syphilis, eine Krankheit, die sich bei falscher Behandlung ins Körperinnere zurückzieht und langfristig den Organismus verheert. Dass er sich mit Hanteln fit zu halten versuchte, wie Sulzer bald darauf schildert, steht schon im Zeichen des Siechtums.

Das Bild der Ehe, das auch Sulzer betont, indem er die Mutter auf dem Totenbett eine Art Trauung vornehmen lässt, lässt sich bei den Goncourts also dahingehend erweitern, dass Edmond viele Jahre der Witwer aus einer brüderlichen Union war.

Die Goncourts waren eine Ausnahme, denn in der Regel finden Brüder nicht leicht in eine so intime Gemeinschaft, wie es ein gemeinsamer Haushalt und gemeinsames Schreiben nun einmal sind, ein Junggesellenleben mit einer Haushälterin, die nicht kochen kann, und mit sexuellen Passionen, auch das pointiert Sulzer, die immer wieder wie vertaktet auftraten.

Krise von Beginn an

Die Goncourts waren also sogar einträchtig lüstern. Eine Bruderbeziehung ist im Grunde von Beginn an eine Krise, sie verweist auf eine Nähe zueinander, die Familie nun einmal stiftet, die man sich aber auch nicht ausgesucht hat. Persönlichkeit entsteht durch Nachahmung und Abgrenzung, eine Biografie beruht auf Nähe und Distanz zum Vorgegebenen, und der Bruder ist in so einem Leben, wenn es ihn gibt, von vornherein der Nächste. Und damit auch der erste Repräsentant von "tout le monde".

Dass die Französische Revolution in der Brüderlichkeit eine Grundtugend sah, hat eben mit diesem Schritt von der Ablösung der Nahbeziehungen durch gesellschaftliche Beziehungen zu tun. Brüderlich werden die Menschen erst, wenn sie nicht mehr nur auf die Verwandtschaft schauen. Schwesternschaften gibt es selbstverständlich genauso, und auch in der Sisterhood zeigt sich eine Universalisierung, die aus den elementaren Strukturen der Verwandtschaft hinausführen soll. Und gleichzeitig verbinden sich mit Schwesternschaft charakteristisch andere Vorstellungen als mit Brüderlichkeit, die beiden Motive sind also auch Reservoire unserer Ideen von Geschlechterdifferenz.

Alain Claude Sulzer, "Doppelleben". € 23,– / 304 Seiten. Galiani-Verlag, 2022.
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Zwei Stars, beide sehr erfolgreich

In der Literatur ist das berühmteste Beispiel für eine misslungene Brüderlichkeit wahrscheinlich die Beziehung zwischen Heinrich und Thomas Mann. Zwei Stars, beide sehr erfolgreich, und bis an die Schwelle des 20. Jahrhunderts auch durchaus einträchtig. Dann aber schreibt Thomas Mann Die Buddenbrooks, während Heinrich, der Ältere, einen Roman mit dem Titel Die GöttinnenoderDie drei Romane der Herzogin von Assy herausbringt. Damit war ein Unterschied hergestellt, unter dem Heinrich ein Leben lang litt, denn einen Epochenroman, wie ihn die Buddenbrooks durchaus darstellen, hatte er nicht zustande gebracht, auch wenn er später mit Professor Unrat oder Der Untertan näher an diesen Anspruch heranreichte. Thomas und Heinrich Mann, das steht für Rivalität, auch für politische Differenzen, für unterschiedliche Lebensstile und schließlich für ein negatives Urmotiv des Brüderlichen, nämlich für Feindschaft.

Von "feindlichen Brüdern" schreibt auch Dieter Borchmeyer, der bei Suhrkamp gerade eine monumentale Studie zu Thomas Mann herausgebracht hat. Feindliche Brüder gibt es seit Kain und Abel, sie entstehen wie von selbst aus einem väterlichen Gesetz, vor dem zwar alle gleich sein sollten, sich aber nicht als gleich erleben. Damit beginnt der Prozess einer mimetischen Konkurrenz, Brüder kommen nicht voneinander los, sie werden einander buchstäblich zum Schicksal.

Arbeitspartnerschaften

Auf die Goncourts traf das in hohem Maße zu, und auf eine radikale Weise dadurch, dass sie auch ihr Privatleben teilten. Geläufig sind heutzutage eher Arbeitspartnerschaften unter Brüdern. Jean-Pierre und Luc Dardenne aus Belgien sind seit Jahren eine Marke im Weltkino. In einem Interview für den STANDARD beantworteten sie die Frage nach ihrer Zusammenarbeit einmal auf den ersten Blick eher technisch: "Wir machen immer alles gemeinsam, erst kurz bevor die Kamera läuft, trennen wir uns. Unsere Arbeit beruht ja zu einem wesentlichen Teil auf Proben. Wir probieren vorher schon einmal Monate mit den Schauspielern, und wir probieren auch am Drehtag zuerst noch ziemlich lang ohne Kamera.

Dann erklärt einer das Bild der Technik, und einer von uns stellt sich zur Videoausspielung. Dort treffen wir uns dann wieder, dort diskutieren wir, ob wir noch eine weitere Aufnahme brauchen. Oft ist es schwierig, der Kamera zu folgen, weil die Räume häufig nicht groß sind und wir auch 360-Grad-Schwenks machen. In so einem Fall sitzen wir dann eben beide hinter einer falschen Wand und verfolgen alles auf dem Monitor." Hinter dieser Beschreibung ihres Vorgehens am Set verbirgt sich aber eine grundlegende Dramaturgie, ein stetiges Auseinandergehen und Zusammentreffen. Wichtig ist, dass der gemeinsame Blick auf die Welt stimmt, das ist aber auch das Unwahrscheinlichste. Denn es sieht nun einmal jeder etwas anderes. Das wird auch bei den Goncourts so gewesen sein, die aber einigten sich immer auf eine Beschreibung und einen konkreten Text. Die Dardennes einigen sich immer wieder auf ein Bild.

Die Coen-Stilistik

Joel und Ethan Coen haben ihre ebenfalls einzigartige Teamarbeit sogar einmal mit einem ihrer Filmtitel auf die Spitze getrieben: Oh Brother, Where Art Thou? (Oh Bruder, wo bist du?), das spielt eben (in einer sehr komischen Geschichte) auf dieses Motiv allgemeiner Brüderlichkeit an, das sich in der konkreten erprobt. Bei der Herstellung eines Films gibt es viel zu tun, und das Kino wurde immer schon von Debatten darüber begleitet, wo denn nun der entscheidende (künstlerische) Anteil liegt, wenn von der Kamera bis zum Sounddesign, nicht zu reden von all den Stars, so viele Leute zusammenwirken müssen.

Die Coen-Brüder lassen diese autorenpolitischen Debatten immer wieder elegant hinter ihrem gemeinsamen Auftritt verschwinden, auch wenn Joel sukzessive stärker die Regierolle einnahm. Wichtiger ist wohl nicht so sehr, wer was macht, sondern woher diese unverwechselbare Coen-Stilistik kommt, dieser bestimmte Humor, das Eigenwillige an all ihren Projekten. Das kommt eben aus den Rätseln der Sozialisation, bei den Coens einer nordamerikanisch-jüdischen. Wenn man älter wird, erweitert sich der Horizont des Sozialen, man lernt neue Leute kennen und orientiert sich, wenn man darauf neugierig ist, bald in einem wahren Kosmos an unverwechselbaren Typen.

Edmond und Jules de Goncourt, "Blitzlichter. Aus den Tagebüchern der Brüder Goncourt". Hrsg. von Anita Albus. € 25,– / 352 Seiten. Galiani-Verlag, 2023.
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Kein Bruder zum Heiraten

Die Goncourts lesen wir heute vor allem als die Chronisten eines solchen Kosmos. Sie schufen Blitzlichter, so der treffende Titel der wegweisenden Tagebuch-Anthologie von Anita Albus, die 1989 in der Anderen Bibliothek erschien und die der Galiani-Verlag gerade neu herausbringt. Über Flaubert schrieben die Goncourts im November 1858: "ein von de Sade besessener Kopf. Im Grunde ist es die Schändlichkeit, nach der es ihn gelüstet, die er sucht; er ist glücklich, wenn er einen Kloakenfeger sieht, der Kot frißt. Im selben Atemzug richtet er seine groben pantagruelischen Ironien gegen die Gottesleugner. Jemand wird von seinem atheistischen Freund zum Angeln mitgenommen; sie fischen einen Stein, auf dem geschrieben steht: Ich existiere nicht, gezeichnet Gott. Siehst du wohl, sagt der Freund."

Flaubert hatte auch einen Bruder, er war Chefchirurg des Spitals von Rouen, die Goncourts beschreiben ihn als einen "ellenlangen und satanischen Kerl mit einem gewaltigen schwarzen Bart". Eine beeindruckende Gestalt also, aber kein Bruder zum "Heiraten". Einer aus "tout le monde", während die Goncourts ihren brüderlichen Bund von Beginn an unter das Zeichen der Literatur und des Sammelns stellen, also einer Weltdistanz, die auch durch ihr endloses Salonieren nicht aufgehoben wird und die Edmond als Witwer schließlich konsequent für sich und Jules vollendet. (Bert Rebhandl, 12.2.2023)