Wolfgang Böhm über zwei ungleiche Brüder am politischen Abgrund.

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Kein Jazz mehr. Er war aus dem Radioprogramm verschwunden, selbst in den meisten Schallplattenläden war er aussortiert worden." So beginnt eines der letzten Kapitel des Romans, und da ist es mit der Demokratie in Österreich auch schon wieder vorbei, der Ständestaat als Antithese zur Moderne bestimmt die politische Wirklichkeit. Aber nicht der gesellschaftliche Bruch setzt die beiden Brüder Viktor und Hans zueinander in Distanz. Es geht um unterschiedliche Lebensauffassungen, Mentalitäten, Milieus.

Das zeigt sich schon zu Beginn: Der ältere der beiden aus Olmütz stammenden Brüder, Viktor, kommt nach dem Ersten Weltkrieg als "Verlierer" nach Wien, in eine "farblose" Stadt. Hans, der Jüngere, hat hier schon Fuß gefasst. Er verfügt über Kontakte, hält sich mit dem Schmuggel edler Zigarren über Wasser und arbeitet an seinem Ziel, Schüler von Josef Hoffmann an der Kunstgewerbeschule zu werden. Es ist eine Zeit des Aufbruchs auch in der Kunst: "Alles wird neu geordnet, alles Bisherige zerbricht." Oder, wie es Hans selbstbewusst und unverblümt dem Bruder ins Gesicht sagt: "Es ist die Zeit der Kreativen, nicht der Beamten."

Umbrüche

Viktor führt als Lehrer bald eine bürgerliche Existenz, doch weltoffen und politisch liberal. Er ist der Besonnene, der Verantwortungsbewusste, Hans der Bonvivant, ein Künstler mit hochfliegenden Plänen, der mit der Realität nicht zurechtkommt, der nichts von sozialer Armut und ideologischen Gräben hören will. Während er vom "Umbruch" in der Kunst schwärmt, dräut im Hintergrund schon das Ende dieser Entwicklung herauf. Dann und wann liest man von "Hakenkreuzlern" und Straßenkämpfen, von einem Gegenprogramm, das als "Schutz unserer christlich-deutschen Kultur" verstanden wird. Im Brennglas der Kunst betrachtet sind es allerdings goldene Jahre: Bars und Cafés werden mit edlem Design ausgestattet. Namen wie Hoffmann, Loos und Gropius geistern ständig durch den Roman, Weimar und das Bauhaus, wo auch Hans seine Ausbildung fortsetzt, signalisieren nicht nur die Erneuerung des Kunstbegriffs, sondern auch ein neues Lebensgefühl.

Feigenblätter

Die Schönheit, so Hans, soll in einfachen, geradlinigen Formen, in "puristischer Sachlichkeit" zum Ausdruck kommen; mit einem weltanschaulichen Programm, wie es das "rote" Wien etwa mit der "Siedlerbewegung" umzusetzen versucht, will er es nicht verbinden. Viktor und seine Frau Irmgard schreiben sich dort ein, Irmgard engagiert sich auch bei den Sozialdemokraten, für Hans dagegen muss das Leben nur "schillern". Ästhetik, Genuss, Luxus gehören für ihn zusammen.

Das gilt freilich nur für die, die es sich leisten können, ihren Lebensraum nach der Formensprache der Wiener Werkstätte zu gestalten. Für eine kleine gehobene Minderheit mögen die Jahre nach dem Ersten Weltkrieg ein ästhetisches Erlebnis gewesen sein. Diese Erfahrung ist jedoch schnell dahin, als autoritäre Strukturen all den Fortschritt wieder zunichtemachen. Am Ende dominiert wieder die "volkstümliche Kunst", noch schlimmer: Josef Hoffmann, zentrale Figur der neuen Kunstströmung, wird zum Feigenblatt des Ständestaat-Regimes, und Hans, der jeglichem politischen Engagement stets auswich, nimmt am Ende Aufträge vonseiten der Nazis entgegen.

Man arrangiert sich, der Kunst wegen, mit den Zeitläufen. Die neue Kunst heißt bei den Nazis übrigens "Anständige Form". Der andere Bruder, Viktor, verfolgt diese Wandlungen mit Argwohn, einen Bruderkonflikt aber weiß er immer wieder zu verhindern, trotz der Scherben, die Hans in der Familiengeschichte hinterlässt. Wolfgang Böhm schreibt seinen Roman entlang dieser Bruchlinie. Zwischen Brüdern ist ein Großstadt-, Zeit- und Künstlerroman, der allerdings zu sehr in diesem Milieu verhaftet bleibt.

Wolfgang Böhm, "Zwischen Brüdern". € 24,– / 272 Seiten. Picus-Verlag, Wien 2022.
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Konträre Lebensentwürfe

Damit auch die politische und soziale Dimension nicht zu kurz kommt, flicht der Autor zwar das Zeitgeschehen mit ein, nur kommt das über den Charakter einer Randspalte nicht hinaus, sie kann dem Leser bestenfalls in Erinnerung rufen, dass da noch etwas anderes war. Leider geschieht das nur mit Schlagwörtern und nicht mit erzählerischen Mitteln. Auch ist es ausschließlich die urbane Perspektive, das bürgerliche Wien. In den Arbeiterbezirken und in der Provinz haben Wiener Werkstätte und Josef Hoffmann indes keine Bedeutung gehabt. Da war Ästhetik kein Kriterium des Alltags, das Künstlermilieu bestenfalls ein ungeliebter Fremdkörper. Dass der Autor dieses Missverhältnis überhaupt nicht thematisiert, mag man als Defizit empfinden. Für einen Epochenroman ist es ohnehin zu wenig, wenn das Widersprüchliche einer Zeit vorrangig als Auseinandersetzung unterschiedlicher Kunstauffassungen reflektiert wird.

Dort, wo es um das Familiäre geht, erweist sich der Roman als eindrucksvoll erzählte Geschichte zweier Brüder und ihrer konträren Lebensentwürfe, eine Geschichte, die ganz ohne das Klischee verfeindeter Brüder auskommt, vielmehr um Verständnis bemüht ist. Das ist aber auch dem Interesse für Kunst, für Ästhetik geschuldet. (Gerhard Zeillinger, 14.2.2023)