Thomas Oláh arbeitete als Kostümdesigner für Oskar Roehlers "Jud Süß" oder Detlev Bucks Film "Die Vermessung der Welt".

Foto: Stefan Oláh

In meiner Erinnerung ist alles still, kein Geräusch zu hören, Teile fliegen durch das Innere des Wagens, Muttis Schlüsselbund mit dem silbernen Anhänger, ein Apfel. Und sogar die hölzernen Boccia-Kugeln, sechs Stück zu je knapp einem Kilo; in deren Mitte das kleine, rote Pallino, in einem Plastikkäfig gefangen, ein solides Paket. Und das schwebt jetzt durch den Fahrgastraum. Das schöne Wochenende wird so nicht stattfinden, das sieht auch Vati ganz klar, während er am Lenkrad herumreißt, obwohl er längst die Kontrolle über das Fahrzeug verloren hat.

Das sieht Mutti, einen stummen Schrei im Gesicht, die ihre beiden Kinder nicht festhält, sondern in den schwarzen Fußraum zwischen Vordersitz und Rückbank drückt, sie in Deckung bringt, weil das Unvermeidliche immer näher kommt. Zunächst für Mutti. Die Boccia-Kugeln steuern auf einen unsichtbaren Zielpunkt oberhalb ihrer rechten Augenbraue zu, während der Wagen vom rechten an den linken Fahrbahnrand und wieder zurück an den rechten geschleudert wird, hochschaukelt – die Räder links weit vom Boden abgehoben –, plötzlich wieder die Richtung ändert und herumreißt auf die andere Seite. Die Landstraße ist jetzt ein schmales Band, und bald wird es uns abwerfen. Noch weiß Vati nicht, ob nach rechts oder links, der Abgrund ist beiderseits beachtlich und der Crash unausweichlich. Ich freue mich aufs Ende, nicht auf das, was dann kommen wird, sondern darauf, dass das wilde Geschaukel und Gewerfe endlich ein Ende hat, mir ist übel.

Boccia-Kugeln

Schon trifft das kompakte Paket der Kugeln knackend Muttis Stirn, und das kleine Auto hebt ab, noch eine bockige Wende einleitend, die Kiste fährt jetzt fast senkrecht stehend auf zwei Rädern, verlässt den geteerten Boden, ich kann den Himmel, den strahlenden, augustblauen, wolkenlosen Himmel durch das Seitenfenster sehen, Mutti hat ihren Kopf für einen Moment nach hinten gekippt, als ruhte er auf der Hutablage, und die Boccia-Kugeln haben ihre Richtung geändert und streben jetzt vorwärts auf die Windschutzscheibe zu, da trifft ein harter Schlag meinen Rücken, für einen Augenblick ist der Flug zu Ende. Doch hebt das Auto wieder ab, ein neuerlicher Sprung, jetzt in die andere Richtung drehend, ich glaube, ich muss mich gleich übergeben – ich habe Autofahren nie vertragen –, habe aber keine Tüte zur Hand, ich bin so müde, ich werde nicht kotzen, ich schlafe ein.

Der Lärm weckt mich, Schluss mit Stille, jetzt ist das Leben prall zurück. Eine heiße Sonne, die harten Erdschollen des Feldes drücken, alles voll mit Krumen, auch in der Hose, unter meinem Lieblings-T-Shirt mit lassoschwingendem Cowboy-Aufdruck, ich will auch reiten, über die Felder, die ich vor mir sehe. Vati läuft kreuz und quer über den Acker, sucht etwas, findet einen Schuh, es ist seiner, aber er zieht ihn nicht an, lässt ihn achtlos von seiner Linken baumeln, was sucht er denn?

Unterm Sitz versteckt

Mutti liegt seltsam verdreht, ihr Blick gegen den wolkenlosen Hochsommerhimmel, sie träumt, wovon nur, spricht im Schlaf, unverständlich, klagend, warum wischt sie sich das Blut nicht von den Augen, du kannst doch gar nichts sehen. Wisch dir das Blut doch ab, Mutti.

Ich werde hochgerissen von einem Fremden, wo kommt denn der jetzt her, unverständlich spricht er auf mich ein, aufgeregt, mit einem fremden Akzent, wo trägt er mich hin, was macht er hier, schleppt mich die Böschung hoch, ich will sein Gerede nicht hören, alles soll gut sein, das sieht aber gerade nicht so aus, der ist ja ganz durcheinander, er stolpert, wir fallen, ich mache mich los, will zu Vati, ihm helfen zu finden, was er sucht.

Es könnte so ruhig sein hier, wenn man uns ließe. Mutti wird wieder aufwachen, Vati alles finden – meinen Bruder habe ich vergessen. "Welcher Bruder, wo ist der, wie alt?", schreit mich der Fremde an. Mutti hat ihn unterm Sitz versteckt.

Keine Rückkehr

Die müde rufende Sirene des näherkommenden Rettungswagens weiß schon, dass sie nicht mehr zurückfinden werden ins Leben der Anderen, die jetzt tanzen und Würstel essen am Kirchtag in Frankenhayn, die Tanten und Onkel, Cousins und Cousinen. "Wo bleiben die denn?", wird Großvater bald fragen, und Großmutter wird sagen: "Sie werden schon kommen." Aber sie werden nicht kommen, nicht heute und vielleicht nie mehr.

Nichts wissen sie von dem, was ich hier sehe. Die Krumen in meinem Mund weichen sich auf zu einem Brei, der seltsam metallisch schmeckt. Ich kann das nicht schlucken. Vor dem Wirtshaus steht eine Bude, ein fahrender Händler, der nicht nur Süßigkeiten verkauft, sondern auch Westerngewehre, ich kann mich nicht entscheiden: für einen nietenbeschlagenen Gürtel mit zwei Halftern, tief hängend, mit einem kleinen Bändchen am Schenkel festgebunden, so kann man sie leichter ziehen, die beiden silbernen Colts. Oder für eine Silberbüchse. Aber ich werde gar nicht auf dem Kirchtag sein, ich bin aus allem hinausgeworfen, habe keine Verbindung mehr zur Welt. Wo ist mein Bruder?

Thomas Oláh, "Doppler". € 24,– / 224 Seiten. Müry-Salzmann-Verlag, Salzburg 2023. Das Buch erscheint in wenigen Tagen.
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Die Kiste

Ich sitze in einem fremden Wagen, oberhalb der Böschung am Straßenrand geparkt, die Tür offen, meine Beine baumeln über dem Gras, das die Füße kitzelt durch die offenen Sandalen, Lieblingssandalen, aus dunkelrotem Leder, stellenweise fast schwarz, zu ganz persönlichen Skulpturen geformt vom vielen Laufen durch den Sommer, Frühsommer, der voller Versprechen war, aber heute zu Ende ist. Von hier oben habe ich einen guten Ausblick über die steile Böschung: unten im Feld unser Auto, die Kiste, wie Mutti es nennt, liegt auf dem Dach, ich sehe die Eingeweide seiner Unterseite, gewundene Rohre, Streben, Ausbuchtungen, das obszöne Innenleben des Vehikels, das seine Familie in den Abgrund warf. Ein Austin Morris 1100 in Hellgrau, auch Jochen Rindt fährt englische Autos, aber mit mehr Erfolg als wir. Noch. Vati ist weg. Hat er gefunden, was er suchte? Mutti träumt weiter, jetzt zugedeckt mit einer karierten Decke, Schottenkaro, ganz feine gelbe Streifen zwischen breiten roten und schwarzen Balken, seltsam öde rechtwinkelige Anordnung.

Das klagende Heulen der Sirene kommt näher – bitte ausmachen, nicht diesen Sommermittag stören, bitte, ich werde nie wieder Würstel am Kirchtag essen, es wird mir ohnehin immer übel davon. Jetzt ist mir nicht mehr übel, ich habe aber auch keinen Hunger. Ich will nicht weg von hier, doch diese Riesenhände, Arme zwingen mich ins strahlend weiße Innere des Rettungswagens. Stechender Geruch nach Alkohol, kein Putzmittel, klarer, eindeutig. Gelegentlich chromblitzende Akzente, die Sirene weint weiter, Mutti neben mir, auf einer Liege, ganz verschmiert ist ihr Gesicht, mit Blut und Erde verklebt (...) Vati sitzt mir gegenüber, sein Haar zerrauft, und hält die Decke im Arm, zum Bündel gerollt. Ist da mein Bruder? (Thomas Oláh, 13.2.2023)