Zäune wie jener an der ungarisch-serbischen Grenze waren zwar Thema beim EU-Gipfel, kommen aber in der Schlusserklärung nicht vor.

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17 Stunden lang haben die Staats- und Regierungschefs beim EU-Sondergipfel in der Nacht auf Freitag praktisch ununterbrochen darum gerungen, zu drei der aktuell drängendsten Problemen Einigungen und konkrete Lösungen zu finden: zum Krieg in der Ukraine, bei Asyl- und Migration bzw. gegen die 2022 stark gestiegene illegale Migration und Schlepperei. Und dann hat man sich auch noch kurz mit der europäischen Antwort auf das riesige US-Investitionsprogramm zur Subventionierung grüner Industrie beschäftigt.

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DER STANDARD

Die meiste Zeit ging es um den Krieg in der Ukraine, um Hilfen und wirtschaftliche Perspektiven für dieses Land. Durch den Besuch von Präsident Wolodymyr Selenskyj war das auch das alles dominierende Thema. Selenskyj brachte vor allem weitere Waffenlieferungen auf die Tagesordnung – bis hin zur Forderung nach Kampfjets.

"Was immer auch nötig ist"

Der Gipfel hat im humanitären Teil der Beschlüsse zur Ukraine mehr oder weniger klargestellt, dass das Land und seine leidende Bevölkerung weiterhin maximale Hilfe bekommt. Die Formel "Was auch immer nötig ist" gilt vor allem in diesem Bereich, was im Getöse der Kriegsdebatte oft untergeht. Millionen von ukrainischen Flüchtlingen, die es bereits gibt, und vielleicht weiteren Millionen Menschen, die vor russischen Angriffen noch fliehen werden, dürfen also hoffen, dass die EU-Partner sie nicht allein lassen werden.

Diese Einordnung ist deshalb so wichtig, weil man in der innerösterreichischen Debatte zur Asyl- und Migrationspolitik, zum Umgang mit Asylwerbern wie mit irregulär ins Land gekommenen Migranten, die kaum Chance auf Asyl haben, oft den Eindruck gewinnen könnte, "in Brüssel" gehe es nur darum, neue "Zäune" gegen Zuwanderer aller Art aufzubauen – als sei die Europäische Union im permanenten Abwehrkampf gegen Menschen, die Hilfe brauchen.

Streit bis in die Nacht hinein

Nichts davon ist real und wahr, und die Zuspitzung der Diskussion auf "Zäune", wie das in Politik und Medien und angeheizt durch Bundeskanzler Karl Nehammer an der Spitze passiert, hat einen etwas simplen Charakter. Die Staats- und Regierungschefs haben sich jedenfalls bis zwei Uhr früh wild gestritten, weil bei 27 Ländern naturgemäß völlig konträre Interessen und politische Kalküle beim Umgang damit im Spiel sind. 2022 ist nicht nur die Zahl der Asylwerber stark, nämlich auf fast eine Million angestiegen, sondern auch die Zahl der nicht registrierten irregulären Ankünfte.

Griechenland und Italien etwa forderten deshalb mehr EU-Hilfe beim Außengrenzschutz, vor allem Geld. Nehammer forderte für Österreich mehr EU-Geld für den Grenzschutz in Bulgarien und Maßnahmen auf der Balkanroute, was die Regierung in Sofia begrüßt. Dort gibt es bereits gut ausgebaute Infrastruktur zur Grenzkontrolle zur Türkei, vulgo "Zäune", wenngleich mit Lücken. So wie in Polen oder Griechenland. Frankreich, das viele Migranten über Italien "bekommt", ist für härteres Vorgehen gegen Illegale und Schlepperei, redet aber nicht so laut drüber.

Deutschlands rot-grün-liberale Regierung sucht eine Mitteposition, will humanitäre Hilfe gewahrt wissen, unterstützte aber auch die Forcierung restriktiver Maßnahmen. Berlin setzt zum Beispiel stark darauf, die Zahl der Rückführungen von Migranten ohne Bleiberecht zu forcieren, indem Rückführungsabkommen mit Drittländern vereinbart werden sollen. Der liberale luxemburgische Premier Xavier Bettel hingegen wollte von der Verstärkung von Zäunen nichts wissen, wenig überraschend: In seinem Grenzort Schengen wurde einst das Europa der offenen Grenzen erfunden.

Für jedes Land etwas dabei

Und so sah das Ergebnis des EU-Gipfels in der Schlusserklärung im Migrationsteil am Ende aus: Man fand sich im Kompromiss. Für jedes Land ist etwas von seinen Forderungen dabei, sprachlich so fein ausgezirkelt, dass Experten nun Mühe haben werden, die Beschlüsse in konkrete politische Maßnahmen umzusetzen.

Aber eines ist in der Tendenz klar: Die EU-Staaten wollen den Kampf gegen irreguläre Migration verschärfen, sie fordern die Kommission schon in den ersten Sätzen der Erklärungen zum Handeln und Umsetzen auf, wobei klargestellt wird, dass "EU-Prinzipien, Werte und der Schutz von Grundrechten" gewährleistet sind. Die Aktionspläne auf der Balkanroute und im Mittelmeer werden als "prioritär" bezeichnet. Was Rückführungen und Abkommen mit Drittländern betrifft, soll der Druck erhöht werden, inklusive der Androhung von Kürzungen bei Entwicklungshilfe.

"Infrastrukturen" statt "Zaun"

In dieser Tonalität geht es weiter – bis zur Frage, was bei den Grenzanlagen geschehen soll. "Das Wort, das Sie ausgesprochen haben, kommt nicht vor", antwortete der deutsche Kanzler Olaf Scholz am Ende des Gipfels trocken auf eine Frage zu den Zäunen. Stattdessen ist viel die Rede davon, dass "Infrastrukturen" an den Grenzen verstärkt werden sollen und die EU-Kommission dafür auch Geld lockermachen soll. Die Summe bleibt offen.

Was also finanziert werden soll, darüber müssten vor allem die betroffenen Länder selbst entscheiden – ob es nun Überwachungskameras, Drohnen, Grenzbeamte oder eben auch Zäune sind. Die EU wird sich mit Geldern direkt und indirekt beteiligen. Die Arbeit daran beginnt also erst. Tatsächlich neu ist, dass konkret davon die Rede ist, auf der Balkanroute ein "Pilotprojekt" zu starten.

Keine Festung Europa

Das wiederum freute Kanzler Nehammmer. Er verbucht das als seinen Erfolg, und das stimmt in gewisser Weise auch, denn er hatte den Migrationsgipfel gemeinsam mit dem niederländischen Premierminister Mark Rutte im Dezember gefordert und bekommen. Dass damit aber nicht die ultimative Befestigung Europas gemeint ist, ist ebenso klar: Deshalb kann der Luxemburger Bettel gut mit den Kompromissformeln leben.

Konkret heißt es: Die EU-Kommission wird aufgefordert, unverzüglich EU-Mittel bereitzustellen, um Ländern dabei zu helfen, ihre Infrastruktur und Ressourcen in Sachen Grenzschutz zu stärken. Genannt wird in der Schlusserklärung "Überwachung, inklusive Luftüberwachung, und Ausrüstung".

Wie so oft war es auch bei diesem EU-Gipfel so: Am Ende erklären sich praktisch alle Staats- und Regierungschefs zu Siegern. Aber man sollte nicht aus den Augen verlieren: Die wirklich wichtige Frage wird sein, wer im Krieg in der Ukraine der Sieger sein wird. (Thomas Mayer, 10.2.2023)