Tag für Tag steigt in Frankreich die sozialpolitische Spannung um die Reform, die eine Erhöhung des Rentenalters von 62 auf 64 Jahre vorsieht. Die Gewerkschaften erhöhen langsam den Druck, um die Regierung von Präsident Emmanuel Macron spätestens im März in die Knie zu zwingen. Zugleich hüten sie sich, die Bevölkerung durch Streikaktionen allzu stark in Mitleidenschaft zu ziehen. Noch unterstützt eine klare Umfragemehrheit von rund 70 Prozent die Reformgegner. Und diesen "Goodwill" wollen die Gewerkschaften nicht verspielen.

Am Samstag, dem vierten Protesttag, ist erneut rund eine Million Demonstrantinnen und Demonstranten auf die Straße gegangen. Den Bahnverkehr legten sie nicht lahm, da an diesem Wochenende in Teilen Frankreichs die Winterferien beginnen. Junge Skifahrerinnen und -fahrer sollen nicht am Pistenplausch gehindert werden. Am kommenden Donnerstag plant die für einmal geschlossene Gewerkschaftsfront weitere Umzüge in 200 Städten.

Streik ohne Ende

Diese massive Mobilisierung ist aber erst das Vorspiel. Das eigentliche Armdrücken beginnt am 7. März, wenn die Schulferien in allen Landesteilen zu Ende gehen. An einem neuen, sechsten Protesttag dürfte die laufende Parlamentsdebatte ihrem Höhepunkt zutreiben. Und die radikaleren Gewerkschaften wie CGT, SUD oder Force Ouvrière wollen ab dann auf "anhaltende" (reconductible) Weise streiken – das heißt ohne absehbares Ende.

Die geplante Reform sieht eine Erhöhung des Rentenalters von 62 auf 64 Jahre vor. Damit haben viele keine Freude.
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Mit einem weiteren Dreh an Macrons Daumenschraube sollen sodann ganze Wirtschaftszweige in den Ausstand treten. Zu denken ist etwa an Raffinerien. Ohne sie wären die französischen Benzintanks bald leer. Auf diese Weise knickte 1995 Premierminister Alain Juppé ein. Die gemäßigte Gewerkschaft CFDT warnt zwar, dass solche wenig populären Blockaden der Protestbewegung schaden könnten. Doch die Stimmung an der Basis deutet klar auf eine Verhärtung hin, aus der es nur noch einen Sieger geben kann.

Die Entwicklung hängt auch vom Fortgang der Debatten in der Nationalversammlung ab, gefolgt vom Zweitrat, dem Senat. Das Macron-Lager hat nirgends eine Mehrheit. Premierministerin Elisabeth Borne versucht deshalb, die konservativen Republikaner für die Reform ins Boot zu holen. Die zieren sich allerdings, was Macron dem Vernehmen nach im Elysée-Palast zunehmend auf die Palme bringt. Ohne die Stimmen der Konservativen hätte das Mittelager "Renaissance" keine Chance, die die Erhöhung des Rentenalters durchzubringen.

Mit der Brechstange

Es sei denn, Macron lässt die Debatten auf autoritäre Weise abbrechen. Das Mittel dazu hätte er: den Verfassungsartikel 49.3, der Debatten ohne Sachabstimmung, dafür durch eine Vertrauensabstimmung beenden kann. Diese Hauruckmethode ist aber politisch sehr verpönt. Sie lässt die Wogen in der Nationalversammlung schon heute hochgehen. Täglich fliegen Schimpfworte, was immer wieder zur Sitzungsunterbrüchen führt. Die Linksunion "Nupès" zerrt mit ihrer Obstruktionspolitik zudem bewusst an den Nerven der Macronisten. Pro Tag werden nur rund 250 Gesetzeszusätze behandelt – bei insgesamt 16.000 Anträgen. Bei dem Tempo würde die Debatte bis 2025 dauern, haben Experten ausgerechnet. Macron wird deshalb kaum um die wenig demokratische Brechstange des Artikels 49.3 herumkommen.

Am Samstag, dem vierten Protesttag, ist erneut rund eine Million Demonstrantinnen und Demonstranten auf die Straße gegangen.
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Die Rechtspopulistin Marine Le Pen verlangt ihrerseits wiederholt eine Volksabstimmung zum Rentenalter. Die übrigen Parteien sind für einmal vereint dagegen. Das gibt Le Pen indessen die Möglichkeit zu behaupten, die Linke stecke mit den Macronisten unter einer Decke. Bei den Präsidentschaftswahlen 2027 wird sie sich daran erinnern.

In der Rentenfrage wird Le Pen nicht nur von Rechtsextremisten, sondern auch von immer mehr Gelbwesten unterstützt. Die Regierung verfolgt diese Entwicklung besorgt. Wenn die "gilets jaunes" zusammen mit dem "Schwarzen Block" an einer Demo zusammen loslegen, kann das schnell ins Auge gehen.

Gezielte Zugeständnisse

Macron versucht mit gezielten Konzessionen, den Protesten die Spitze zu nehmen. Viel Spielraum hat er aber nicht, wenn er seine Reform nicht substanziell entleeren will. Unter dem Druck der Straße und des Parlamentes, wo ihn die lauten Wortführer der Linken und extremen Rechten "ins Sandwich nehmen", wie es auf Französisch heißt, kann der Präsident nur hoffen, dass sich der Volkszorn im März einigermaßen geordnet entladen wird. Denn wie die Zeitung Le Parisien schätzt, ist die Situation im Land schon jetzt "leicht entzündbar". (brä, 12.2.2023)