Seinen gebührenden Platz in der Musikgeschichte hatte Cerha mit einigen Jahren Verspätung endlich gefunden.

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Es muss für ihn paradox gewesen sein, seine internationale Bekanntheit vor allem dem Dienst an einem anderen Komponisten zu verdanken. Doch seine Vervollständigung der fragmentarischen "Lulu" von Alban Berg war es, die Friedrich Cerha die größte Aufmerksamkeit bescherte, seit sie 1979 unter dem Dirigat von Pierre Boulez und in der Regie von Patrice Chéreau in Paris uraufgeführt wurde.

Die "Herstellung des 3. Akts" der Oper, wie Cerha es in seiner bescheidenen und nüchternen Art selbst nannte, hatte ihn mehr als anderthalb Jahrzehnte beschäftigt – und flugs begann man in seiner eigenen Musik Einflüsse von Berg herauszuhören, die der am 17. Februar 1926 in Wien geborene Cerha stets zu relativieren versuchte.

Zwar war die Nähe zur Wiener Schule von Arnold Schönberg, zu Berg und vor allem zu Anton Webern für sein eigenes Schaffen konstitutiv. Doch in eine Schule einreihen wollte sich der Komponist nie. So beschäftigte er sich auch mit Josef Matthias Hauer, dem Begründer einer "anderen" Zwölftonmusik. Und obwohl er die neuesten Entwicklungen der Nachkriegszeit begierig aufnahm und sich intensiv mit dem Serialismus der Darmstädter Schule auseinandersetzte, suchte er nach eigenen Wegen.

Gebührende Aufmerksamkeit

Ausgesprochen vielfältig sind die musikalischen Mittel, die er nach und nach entwickelte. Für seinen spektakulärsten Fund, den er etwa in seinem monumentalen siebenteiligen Orchesterzyklus "Spiegel" ausarbeitete, war jedoch ein plakativer Ausdruck bei der Hand: "Klangflächen" aus über weite Räume ausgebreiteten, höchst differenzierten Tönen und Klängen, die mit minimalen Entwicklungen größte Wirkung entfachten.

Sein musikhistorisches Pech war, dass seine prominenten Kollegen György Ligeti und Krzysztof Penderecki etwa zeitgleich um das Jahr 1960 herum etwas ganz Ähnliches fanden. An einem Prioritätenstreit hat sich Cerha nie beteiligt, aber gerne die Anekdote erzählt, sein Freund Ligeti habe, als er ihn einmal besuchte und ausgebreitete Manuskriptseiten überflog, ausgerufen: "Was machst du da? Du schreibst ja mein Stück!"

Anders als bei seinen Berufsgenossen war es mit Aufführungsmöglichkeiten für seine großen Werke anfangs schlecht bestellt. So dauerte es zwölf Jahre, bis die "Spiegel" ihre erste Gesamtaufführung erlebten. Obwohl er unter Insidern längst bekannt war und sich seit 1969 Professor an der Wiener Musikhochschule (heute Universität) nennen durfte, brachte ihm erst das Jahr 1981 die gebührende Aufmerksamkeit als Komponist, als die Wiener Festwochen sein Musiktheater "Netzwerk" und die Salzburger Festspiele seine Oper "Baal" herausbrachten, in der sich erstmals ein großes Lebensthema des Komponisten konkretisierte: das Verhältnis des Einzelnen zur Gesellschaft.

Verhasster Gruppenzwang

Seine Sympathie für die Ausgestoßenen bekundete er auch in weiteren Bühnenwerken ("Der Rattenfänger", "Der Riese vom Steinfeld") – eine Haltung, die biografisch bedingt war. Cerha, der als frühe Kindheitserinnerung die Folgen der Wiener Februarkämpfe 1934 bewahrte und im Nationalsozialismus zweimal aus der Wehrmacht desertierte, um sich zu Fuß von Deutschland nach Tirol durchzuschlagen, blieb lebenslang jeder Gruppenzwang verhasst. Ausdauernd, kämpferisch und eigensinnig beharrte er auf seiner eigenen Meinung und äußerte sie gerade auch bei unorthodoxen Anlässen.

Als er etwa 1986 den Großen Österreichischen Staatspreis – nur eine in einer langen Reihe von Auszeichnungen – erhielt, rechnete er vor, die Summe von 200.000 Schilling, die er dann zur Förderung junger Komponisten zur Verfügung stellte, sei dafür geradezu "lächerlich", entspräche sie doch gerade einmal "zwei Abendhonoraren eines guten Sängers oder Dirigenten" an der Staatsoper. Cerha beließ es nicht dabei, die Verhältnisse zu kritisieren, sondern gab vielfach Impulse, sie zu verändern – am nachhaltigsten vielleicht durch die Gründung des Ensembles "die reihe" gemeinsam mit Kurt Schwertsik, um dem von "Erzkonservativismus und Engstirnigkeit" geprägten Klima im Wien der 1950er-Jahre etwas entgegenzusetzen.

Liebe zum schwarzen Humor

Auch sprachlich war Cerha, der neben dem Musikstudium eine Dissertation in Germanistik abgeschlossen hatte, treffsicher und wandlungsfähig, wobei sich seine Liebe zum schwarzen Humor im persönlichen Gespräch ebenso Bahn brechen konnte wie in seinen Stücken. In seiner musikalischen Farce "Onkel Präsident", für die er selbst am Libretto mitschrieb, heißt es etwa: "Karrieren sind machbar, ebenso wie die Rollen, die wir halt so schlecht und recht spielen."

Seine eigene Laufbahn bewies das Gegenteil, obwohl er sich in den letzten Jahren schließlich doch über breite Anerkennung freuen durfte und schlechthin als Doyen der österreichischen Komponisten galt. Als seine "Spiegel" 2011 zur Eröffnung des Festivals Wien Modern gespielt wurden, war er bereits zum Klassiker geworden. Seinen gebührenden Platz in der Musikgeschichte hatte er da mit einigen Jahren Verspätung endlich gefunden.

Nun ist der Komponist und Dirigent im Alter von 96 Jahren gestorben. Friedrich Cerha wird in einem Ehrengrab der Stadt Wien beigesetzt werden. (Daniel Ender, 14.2.2023)