"Stopp", ruft Ursula Riegler plötzlich und deutet aus dem Fenster. Der schwarze Mini bremst ab, rattert im Schritttempo über die graue Schotterstraße. Die 45-Jährige zeigt mit der rechten Hand auf die kleine Anhöhe, die linke bleibt am Steuer: "Da drüben stehen zwei." Für das ungeübte Auge ist alles eine eintönige Masse, als die sich die niederösterreichische Landschaft rund 40 Autominuten nördlich von Wien präsentiert. Braune Felder, Gestrüpp, die Wiesen sind in Senfgelb getunkt, der Himmel grau.

Der Schotterweg schlängelt sich in den Wald. Man muss den Blick scharf stellen, um etwas Außergewöhnliches zu erkennen. Zwei Rehe jausnen seelenruhig rund 200 Meter fernab der Straße. Sie lassen sich weder vom Mini noch von den in der Ferne dröhnenden Holzarbeiten stören. "Seit der Jagdprüfung hat sich meine Wahrnehmung verändert: Man sieht dort ein Reh, drüben einen Feldhasen oder einen Bussard", sagt Riegler.

Ursula Riegler hat keinen typischen Jagdhintergrund.
Christian Fischer

Wenig später steht der Mini am Waldrand, die letzten Meter zum Hochstand werden zu Fuß bewältigt. Riegler bereitet sich vor, es sind immer dieselben Handgriffe, mit der sie das Gewehr aus der Transporttasche nimmt, überprüft, ob die Waffe gesichert ist, die Wasserflasche im Rucksack verstaut, sich den grünen Filzhut aufsetzt. Sie wirkt routiniert, aber nicht unkonzentriert, erzählt von der Jagdprüfung, ihrem ersten Ansitzen, erklärt die unterschiedlichen Schusszeiten und betont ihre Demut vor der Waffe.

Untypisch

So typisch die Szenerie, so vermeintlich untypisch ist die Protagonistin: Ursula Riegler stammt aus Salzburg, sie war Kommunikationsleiterin bei McDonald’s und Coca-Cola. Heute leitet sie in Wien ihr eigenes Beratungsunternehmen und ist außerdem mitverantwortlich für einen Podcast über Lebensmittelproduktion. Zur Jagd fand sie erstmals über einen früheren Job in einem Regierungsbüro in Salzburg, 2018 absolvierte sie die Jagdprüfung. Riegler gehört nicht zur klassischen Klientel, sondern steht für einen neuen Typ Jägerin. Die Jagd galt immer als verstaubt, archaisch, aus der Zeit gefallen, als Symbol ländlicher Männlichkeit, das nicht zum progressiven Städtertum passte. Doch seit geraumer Zeit erlebt sie eine Trendwende, selbst Veganer und junge Städterinnen sind dieser Tage auf der Pirsch anzutreffen. Das Weidwerk trifft plötzlich den Zeitgeist.

Klaus Hackländer, Institutsvorstand für Wildbiologie und Jagdwirtschaft an der Wiener Universität für Bodenkultur (Boku), ortet gar "einen Megatrend, gerade bei der urbanen Bevölkerung". Zwei Gedanken steckten hinter dem wachsenden Interesse, führt Hackländer aus: der Trend hin zu Regionalität und Nachhaltigkeit sowie der Wunsch, die Herkunft der verzehrten Lebensmittel zu kennen. Der zweite Gedanke habe mit einer Sehnsucht zu tun, denn: "Das Naturerlebnis, das man bei der Jagd erfährt, dass man Teil der Nahrungskette wird, wenn man eine Beute macht, ist für viele emotional einzigartig." Auch für Jungjägerin Riegler ist der Nahrungsaspekt besonders wichtig: "Es entsteht eine Bewusstheit, aber auch eine Verbundenheit."

Traditionsreich und umstritten

Hackländer betreut Studierende aus dem gesamten deutschsprachigen Raum im Rahmen des Masterprogramms Wildtierökologie und Wildtiermanagement an der Wiener Boku. Viele seiner Studentinnen und Studenten seien Vegetarier und Veganerinnen, würden sich im Laufe des Studiums aber zu Feretariern entwickeln, also nur noch das Fleisch gejagter Wildtiere essen, erzählt Hackländer: "Wenn man weiß, wie das Tier gelebt hat und wie es gestorben ist, dann hat das eine ganz andere Qualität. Das spüren auch Menschen, die nichts mit der Jagd zu tun haben."

Immer mehr Menschen zieht es aus der Stadt auf den Hochstand.
Christian Fischer

Rund 133.000 Jägerinnen und Jäger – davon 550 davon Berufsjäger – zählt der Dachverband Jagd Österreich. Ihre Anzahl steigt seit gut zehn Jahren, Jahr für Jahr kommen im Durchschnitt 1000 Personen hinzu. Kommendes Wochenende trifft man sich am Messegelände in Salzburg. Die Jagdmesse "Hohe Jagd und Fischerei" ist eine der größten ihrer Art im Alpen-Adria-Donau-Raum. Ursprünglich war die Jagd hierzulande ein Privileg des Adels. Auch nach dessen Abschaffung 1919 pflegten die ehemaligen Von-und-zu-Familien diesen traditionsreichen, aber auch höchst umstrittenen Brauch weiter.

Kosten und Verständnis

Bis heute zählen die Adelsabkömmlinge zu den größten Grundbesitzern der Republik. Jagen kann heute prinzipiell jeder und jede, der oder die über 18 Jahre alt und unbescholten ist – und es sich finanziell leisten kann: Voraussetzung für die Aushändigung einer Jagdkarte ist die erfolgreiche Absolvierung einer Prüfung im jeweiligen Landesjägerverband. An die 1000 Euro kostet der Schein, hinzu kommen die Kosten für die Ausrüstung von der Waffe bis zu Ferngläsern und Kleidung.

Zumeist ist dann noch ein Pachtpreis zu zahlen, schließlich steht den wenigsten ein Gebiet zur Verfügung, in dem gejagt werden darf. Doch nicht jede Person, die die Jagd ausüben darf, will diese auch tatsächlich ausüben, erklärt Thomas Schön, stellvertretender Landesjägermeister in Wien und Prüfer. Wer an den rund viermonatigen Kursen teilnehme, wolle oftmals "die Natur besser verstehen können". Auch in der Großstadt, wo die Möglichkeiten zum Jagen begrenzt sind, bemerke er eine deutliche Zunahme der Interessenten "aus verschiedensten Schichten, vom Bankdirektor bis zum Straßenkehrer".

Voll belegte Kurse

Das bestätigt auch Riegler: "Beim Jagdkurs war vom MA-48-Mitarbeiter bis zur Ärztin alles dabei." In Wien haben im Vorjahr 400 Personen den Kurs abgeschlossen, ein Drittel davon hätte zuvor keinerlei Bezugspunkt zur Jagd gehabt, sagt auch Helmut Schuckert, Generalsekretär des Wiener Jägerverbands: "Die Tendenz ist klar steigend."

Herbert Sieghartsleitner, Präsident des österreichischen Dachverbands und Landesjägermeister in Oberösterreich, resümiert für das gesamte Land: "Unsere Kurse sind alle voll belegt." Er sieht den Grund darin: "Jagd ist zeitgemäß." Die Diskussion über Jagd findet zumeist zwischen zwei extremen Polen statt. Eine Seite hält sie für ein grausames Freizeitvergnügen elitärer Kreise, die andere für eine notwendige Pflege der Natur. Jäger argumentieren, dass es sie für die Populationsregulierung und die Erhaltung der Biodiversität brauche, da die natürlichen Regelmechanismen in den vom Menschen genutzten Landschaften nicht mehr greifen würden. Tierrechtsorganisationen wollen das der Natur überlassen: Die Überpopulation entstehe erst durch die geförderte Hege und Fütterung.

Rund zehn Prozent der Jägerschaft machen inzwischen Frauen aus.
Foto: Christian Fischer

Den Zugang zu Gewehren an sich sehen Jagdverbände nicht als Motiv für das Interesse. Zudem verweisen sie auf die Waffengesetze. Sieghartsleitner sagt: "Die alten Klischees vom Lusttöter sind Geschichte. Wir bekennen uns dazu, dass es einen Beutetrieb gibt im Menschen. Aber Jagd ist viel mehr als das." Natürlich gebe es auch die "reine Trophäenjagd", diese aber sei "nicht zukunftsfähig". Die Jagd sei vor allem Naturverbundenheit.

Jagd wird weiblicher und jünger

Rund zehn Prozent der Jägerschaft machen inzwischen Frauen aus, in den Kursen sind es 30 Prozent, schätzt Sieghartsleitner. Dem niederösterreichischen Landesjagdverband steht mit Sylvia Scherhaufer eine Frau vor. Sie freue sich besonders über mehr Frauen und auch mehr Junge in ihren Reihen. Menschen, insbesondere aus dem urbanen Raum, würden durch die zunehmende Schnelllebigkeit Erholung in der Ruhe der Natur suchen. Die Pandemie hätte das verstärkt, sagt Scherhaufer: "Sie können durch den Wald pirschen, Wildtiere beobachten und müssen das Handy ausschalten. Mehr abschalten geht nicht."

"Man eignet sich ein immenses Wissen an", sagt auch Riegler, wieder beim Auto angekommen. Außenstehenden ist die Jagd mit ihren Ritualen und speziellen Begriffen fremd. Rieglers Umfeld zeigte sich "teils überrascht, aber durchwegs interessiert", als sie erzählte, sie werde den Jagdschein machen. Der Mini fährt langsam über den Schotterweg zurück in Richtung Stadt. Auf einer anderen Anhöhe sieht man ein Rudel Rehe. (Anna Giulia Fink, Andreas Hagenauer, 15.2.2023)