Der Protagonist von "Gagarine" verweigert sich der Zerstörung seines Kindheitsortes und flieht in das Raumfahrtzeitalter.
Foto: Polyfilm / Hautetcourt

Youri ist seinem Namenspatron Juri Alexejewitsch Gagarin nie begegnet. Als der Kosmonaut 1963 die kommunistische Pariser Banlieue Ivry-sur-Seine besuchte, war der 16-Jährige noch lange nicht auf der Welt. Doch der nach dem ersten Menschen im All benannte soziale Wohnbau Cité Gagarine ist Youris Welt. Dort lebt er allein, ohne seine Mutter, die ihn verlassen hat. Zusammen mit der gleichaltrigen Diana aus dem nahegelegenen Roma-Camp kümmert er sich um Reparaturen am Haus, beobachtet eine Sonnenfinsternis und träumt davon, Kosmonaut zu werden. Auf dem Dach des Plattenbaus weitet sich der Blick über die Pariser Vorstadt hinaus, zu den Sternen und in die eigene Zukunft.

Als Gebäudeinspektoren (das Regieduo Fanny Liatard und Jérémy Trouilh in einem Cameo-Auftritt) der Cité Gagarine den Abriss verordnen, droht Youri, seine einzige Heimat zu verlieren. Nach und nach ziehen alle Nachbarn weg, ‚Gaga‘ wird zur Geisterstadt. Nur Youri bleibt zurück, versteckt in den verlassenen Wohnungen, und baut Gagarine zu seiner Raumstation samt Sternenhimmel um. Doch das lebensfeindliche Weltall um ihn herum lässt sich nicht ewig draußen halten.

Selten ist ein realer Ort so großartig zum filmischen Raum gemacht worden wie der in Gagarine – Einmal schwerelos und zurück. Das Regieduo Fanny Liatard und Jérémy Trouilh entwickelten ihr Langfilmdebüt auf Basis ihres gleichnamigen Kurzfilms, der als ethnografisches Projekt rund um den Abriss der Siedlung entstand. Wir befinden uns in der sozial prekären und ethnisch diversen Banlieue, die Nicolas Sarkozy einst mit dem Kärcher reinigen wollte.

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Schwerelos in der Banlieue

Doch die Sozialstudie über die zerstörerische Gentrifizierung einer Gemeinschaft ist glücklicherweise nur der dezente Hintergrund für eine starke und kurzweilige Coming-of-Age-Geschichte. Zu stimmungsvoller Musik zwischen sphärischen Theremin-Sounds und britischem Straßen-Rap schwebt die Kamera mit Youri durch die Gänge und Stiegenhäuser des Plattenbaus.

Ausgehend vom Namen Gagarine entwirft der Film eine spielerische Science-Fiction-Allegorie, die wunderbar sensibel über den einsamen Protagonisten erzählt. Newcomer Alséni Bathily spielt den zu früh erwachsen gewordenen Teenager Youri als zum Optimismus verdammten Sterngucker. Er verweigert sich der Zerstörung seines Kindheitsortes und flieht in den Retro-Futurismus des Raumfahrzeitalters.

Lyna Khoudri glänzt als Diana, eine romantische Komplizin im Untergang, die sich Youri mit Morsecode annähert. Denis Lavant ist in einem kleinen Starauftritt als Schrotthändler zu sehen.

Parallel zum tatsächlichen Abriss der Wohnsiedlung gedreht, bekommt die Cité Gagarine damit ein neues, ewiges Zuhause im Kino. Für das abgesagte Cannes-Festival 2020 ausgewählt und 2021 beim Crossing Europe gezeigt, landet der fantastische filmische Abgesang nun 60 Jahre nach Juri Gagarins Paris-Besuch in unseren Kinos. (Marian Wilhelm, 15.2.2023)