Der alte Menschheitstraum vom Fliegen wurde 1974 von Sylvia Kristel als Emmanuelle durch Sex im Flugzeug ergänzt.

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Daheim im Dorf in den 1970er-Jahren gab es zwei Kinos. Im Stadtkino Stefan wurden Blockbuster wie Der weiße Hai gezeigt. Im Rahmen der schulischen "Aktion der gute Film" stand aber auch einmal Die Marquise von O. nach Heinrich von Kleist unter der Regie von Éric Rohmer auf dem Spielplan. Das wühlte das einschlägig interessierte Fachpublikum einigermaßen auf. Eigentlich war man gekommen, um sich die Verfilmung eines anderen literarischen, allerdings sexuelleren Stoffs zu Gemüte zu führen: Die Geschichte der O unter der Regie des französischen Modefotografen Just Jaeckin. Die Marquise Heinrich von Kleists auf der Leinwand hatte damals jedenfalls bald erheblich an ihrem Publikum zu leiden: "Ausziehen, ausziehen!"

Das in einem Hinterhof gelegene Kino Hofinger hingegen war von vornherein das Tor zur großen weiten Welt der niederen Instinkte. Dort regierte neben Bud Spencer oder Bruce Lee damals Sylvia Kristel. Im ebenfalls auf einer literarischen Grundlage beruhenden, ebenfalls von Just Jaeckin verwirklichten Film Emmanuelle von 1974 nach einem libertinären teilautobiografischen Roman der französischen Schriftstellerin Emmanuelle Arsan konnte man mit der mimisch recht ausdrucksarmen Sylvia Kristel in der Hauptrolle die im Untertitel erwähnte "Schule der Lust" schon während der Ausläufer der Pubertät erkunden. Die Frau an der Kinokassa hatte ein großes Herz.

Sex mit und ohne Liebe

Das Zauberwort lautete nicht "Porno", sondern "erotischer Spielfilm". Den muss man sich in Zeiten vor dem Internet als zum Laufen gebrachte Fotostrecke aus dem Playboy oder – etwas zünftiger – aus dem Hustler mit zärtlicher Musik und schwülstigen "philosophischen" Dialogen zum Thema sinnliche Lust, Sex mit und ohne Liebe (aber ohne Tabus!) sowie viel glückseligem Gestöhne vorstellen – ohne dass man auf der Leinwand etwas hätte sehen können, das das Jugendverbot gerechtfertigt hätte.

Die Dialoge verstand man aufgrund der unterirdischen Akustik im Kino aber ohnehin nicht – und die expliziten Szenen waren "softcore" gehalten. Heutzutage würden Schüler keinen Finger rühren, um sich irgendwo im Netz einen Emmanuelle-Film zu besorgen. Für uns damals aber war das der Schritt in die große weite Welt der Erwachsenen. Nächste Haltestelle Schmusen! Die Erwachsenen hätten uns die wochenlang das Vergnügen in der Badewanne raubenden Fressszenen aus dem Weißen Hai allerdings ersparen sollen.

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Mit Kristel in der Hauptrolle erschienen über die Jahre fünf kommerziell enorm erfolgreiche Emmanuelle-Filme. Ableger wie Black Emmanuelle mit Laura Gemser und zahllose Plagiate sorgten bis herauf in die Zehnerjahre für zunehmend weniger soften Erotiknachschub in den Videotheken. Die weichgezeichnete, beinahe romantische Geilheit und der Sex an exotischen Orten, der unter anderem den alten Menschheitstraum vom Fliegen (und damit jenem vom Sex im Flugzeug) zumindest auf der Leinwand wahrmachte, werden heute nicht mehr so stark nachgefragt.

Dass ausgerechnet die französische Regisseurin Audrey Diwan, die 2021 für ihr Abtreibungsdrama Das Ereignis in Venedig den Goldenen Löwen verliehen bekam, Emmanuelle neu verfilmen will, verwundert doch sehr. Wahrscheinlich aber will sie ab Drehbeginn im Herbst stärker die feministischen Aspekte der im Guten wie im Schlechten ikonografisch gewordenen popkulturellen Figur Emmanuelle in den Vordergrund rücken. Hoffentlich sitzen dann nicht wieder wie einst die jungen Leute mit den falschen Erwartungen im Saal. (Christian Schachinger, 16.2.2023)