Fiston Mwanza Mujila: "Man spricht in Europa viel über Restitution, aber es bleibt dabei sehr viel in der Luft."

Foto: Richard Haufe-Ahmels

Das neue Stück des 1981 in der Demokratischen Republik Kongo (damals Zaire) geborenen, heute in Graz lebenden Schriftstellers Fiston Mwanza Mujila, Après les Alpes, knüpft an Elfriede Jelineks Gebirgsdrama In den Alpen an. Spürte Jelinek ausgehend vom Kapruner Bergbahnunglück den in Kauf genommenen (alpinen) Toten nach, so fragt Mwanza Mujila nach einer zukünftigen Kapitalisierung der Berge ohne Schnee. Die Doppelpremiere in der Regie von Claudia Bossard findet am 17. Februar im Volkstheater statt.

STANDARD: In Ihrem Stück kommen der Großglockner, der Dachstein und andere Gebirgsregionen vor. Welchen Bezug haben Sie zu den Alpen?

Mwanza Mujila: Die Bilder, die Europa und Afrika voneinander haben, sind in ihrer Falschheit diametral gespiegelt. Im Westen kursieren viele irreführende Klischees über Afrika, und genauso ist es umgekehrt. Im Kongo, wo ich herkomme, glauben Menschen, dass Österreich ausschließlich hochalpin und sieben Monate im Jahr zugeschneit ist. Und dass wir hier nur klassische Musik kennen.

STANDARD: In welchem Verhältnis steht Ihr Stück zu jenem von Jelinek?

Mwanza Mujila: Ich wollte meinen Weg durch das Alpenthema finden. Jelinek und ich haben nicht viel gemeinsam. Ich komme aus dem Kongo, sie ist Österreicherin. Ich bin ein Mann, habe auf Französisch geschrieben, komme aus einem kolonialisierten Land, meine Ururgroßeltern waren Sklaven, ich bin in einer Diktatur aufgewachsen. Mir war klar, ich kann nur die Metapher der Alpen nehmen und daraus in Bezug zu ihrem Text einen neuen schreiben.

STANDARD: Ihre Idee ist, dass die Alpen verkauft werden, zum Rohstoffdepot für den Süden werden. Eine kolonialistische Umkehrfantasie?

Mwanza Mujila: Es ist eine Fantasie, zugleich ist es eine Projektion. Denn ich frage mich auch: Wenn es etwa bald keinen Schnee mehr gibt, was machen wir mit den Alpen?

STANDARD: Aber es geht Ihnen auch um eine fiktive Umkehrung der Ausbeutungsrichtung?

Mwanza Mujila: Ja, schon. Jetzt arbeiten Afrikaner:innen für Europäer:innen.* Es wird ein Krieg im Kongo geduldet, damit wir hier schöne Telefone und Computer haben können. Was aber passiert, wenn in Österreich Frauen und Kinder in den Minen arbeiten?

STANDARD: Tut Europa genug, um, wie es Aimé Césaire sagte, "vor der menschlichen Gemeinschaft Rechenschaft abzulegen über den größten Leichenberg der Geschichte"?

Mwanza Mujila: Man spricht in Europa viel über Restitution, aber es bleibt dabei sehr viel in der Luft. Man fragt auch nie die Menschen in Afrika, spricht nur mit in Europa lebenden Intellektuellen. Ich war zuletzt in Kinshasa in einem Museum, wo sie jetzt erstmals Anfragen aus Europa bekommen. Es wird also über Restitution gesprochen, nie aber über Reparation! Es müsste aus meiner Sicht aber zuerst mit Reparation anfangen. Viele Restitutionen sind mit Massakern und Genozid verbunden, erst wenn man das anerkannt, sich entschuldigt hat, macht es Sinn, über Restitution zu sprechen. Europa denkt auch immer, es sei eine Frage von Geld. Das ist aber nicht unsere Tradition. Man kann auch nur einen Euro zahlen, aber man soll sich normal und offiziell entschuldigen. Es gibt keine Restitution ohne Reparation. Und es gibt keine Restitution, während die Ausbeutung des afrikanischen Kontinents weitergeht. Internationale Firmen betreiben dort Kupfer- und Coltanminen, in denen Frauen und Kinder arbeiten. Die Rebellen bzw. die Kriege im Osten werden zum Teil von europäischen Ländern finanziert. Restitution ist also ein Scheinschauplatz.

STANDARD: Um einen Fall von tödlicher Ausbeutung geht es in Ihrem Libretto für Milo Raus Oper "Justice", die auch nach Österreich kommt. Was wissen Sie über den Unfall?

Mwanza Mujila: Ich komme genau aus der betreffenden Bergbauregion in Katanga und habe auch Freunde und Freundinnen in den Minen verloren. Das Thema ist groß im Kongo, weil es in fast jeder Familie Minentote gibt. Unser Schicksal ist mit Minen verbunden. Wenn der Kupferpreis sinkt, haben die Familien kein Geld, und die Kinder können nicht in die Schule gehen. Dieser Unfall, der in der Oper behandelt wird, ist deshalb publik geworden, weil internationale Konzerne verantwortlich waren, über die berichtet wurde.

STANDARD: Sie betonen, dass es Kinder und Frauen sind, die in den Minen arbeiten. Warum?

Mwanza Mujila: Ja, viele Kinder und Frauen arbeiten dort, weil sie kleiner und wendiger sind. Wenn es einen Krieg gibt, sind auch sie stärker betroffen als Männer, auch wenn darüber nicht berichtet wird.

STANDARD: In Europa lagert versteckter Rassismus. Wo begegnet er Ihnen?

Mwanza Mujila: Aimé Césaire sagte, es gibt eine Verbindung zwischen Kolonialismus und Nazismus und auch zwischen Kolonialismus und Rassismus. Bis 1960, als afrikanische Länder begannen, unabhängig zu werden, war Afrika vor allem ein Objekt des Wissens. Es wurde von europäischer Seite sehr viel über Afrika geschrieben, Europa wollte sich unbedingt als Gegenfigur zu Afrika entwerfen. All diese Bücher und Essays von Ethnologen, Philosophen etc., diese "bibliothèque coloniale", prägen das Bild Afrikas bis heute. Man hat seither an afrikanische Künstler:innen gewisse Erwartungen. Rassismus ist also institutionalisiert.

STANDARD: War die Frage, wer soll oder darf Amanda Gorman übersetzen, ein Beispiel dafür?

Mwanza Mujila: Die Debatte über Repräsentation betrifft das gesamte Gesellschaftsleben. Schwarze Leute sind nicht sichtbar, auch eine Kategorisierung. Jemand Schwarzer aus Amerika wird anders behandelt als jemand aus Afrika, eine Schwarze* Frau wird anders behandelt als ein Schwarzer Mann.

STANDARD: Rassismus im Literaturbetrieb?

Mwanza Mujila: Manchmal ist es nicht Rassismus, sondern einfach Ignoranz. Man vergisst einfach, dass es hier Schwarze Schriftsteller:innen gibt. Deshalb habe ich eine Anthologie herausgegeben ("Das Schwarze Europa", Wunderhorn-Verlag, 2021, Anm.). Es gibt in Deutschland oder Österreich kein Buch über Schwarze Literat:innen, das hat mich sehr verwundert. Es handelt sich hierbei ja um europäische Dichtung, auch wenn sie transnational ist. Wirklich große, sogar berühmte Stimmen, zum Beispiel aus Frankreich, sind gar nicht übersetzt! Das ist einfach Ignoranz.

STANDARD: Sie sind bekannt für Ihre performativen Lesungen, bringen Musik in die Sprache. Ist das für alle Gattungen gleich?

Mwanza Mujila: Meine Musikalität kommt aus meiner Kindheit. Im Kongo gibt es überall Geräusche, sie gehören geradezu zur Architektur. Ich schreibe heute in einer "falschen" Sprache. Wenn ich auf Französisch schreibe, schreibe ich in einer Kolonialsprache. Ich versuche also, die Sprache zu meiner Sprache zu machen. Seit jeher sammle ich Worte. Wenn ich in der Straßenbahn sitze und ein bestimmtes Wort höre, sacke ich es schon ein. (Margarete Affenzeller, 16.2.2023)