Glückliche Menschen sehen anders aus: Kryptic Joe von Deichkind hat es nicht so mit dem Outdoor-Vergnügen im sauren Regen.

Benjakon

Die Zeiten waren niemals gut, aber früher waren sie besser. Pop funktioniert längst nicht mehr als große Verheißung eines möglichen besseren Lebens. Pop läuft heute auf vollen Touren als große Desillusionierungsmaschine mit aus Erdgas generiertem Strom. Selbst die Sehnsucht nach einem Fluchtpunkt draußen in der schönen Natur hat schon vor dem Klimawandel erste Risse bekommen.

Kaum geht man aus der Stadt raus in den Wald, wird man mit Problemen konfrontiert, von denen ein fehlender Lieferservice noch das geringste ist: "(In der Natur) Da verknackst du dir den Fuß / (In der Natur) Da versagt dein Survival-Buch." Und weiter: "Die Erwartungen waren hoch, dieser Ast hängt viel zu tief / Die Blicke von den Tieren sind mir zu passiv-aggressiv. Kein Konto und kein Gott, das ist nicht meine Welt / Hier hat keiner auf dich Bock, und es regnet in dein Zelt."

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Weit weg von der Party und den fetten Bässen im Club haben sich Deichkind für den neuen Song In der Natur ins vom sauren Regen verdorrte Gemüse begeben. Der Wald sieht aus wie eine sozialkritische Skulptur aus Christbäumen, die man erst im April zum Mistplatz gefahren hat. Dabei ist der Wald echt! Deichkind legen Zeugnis ab: Selbst das Remmidemmi in der Flora und Fauna macht keinen Spaß mehr.

Neues vom Dauerzustand, das achte Album des dadaistischen deutschen Trios, ist eines geworden, in dem unter anderem von einem afro-bayrischen Mann mit Sepplhut und Lederhose auf einem Stand-up-Paddleboard im Sinne der Cultural Appropriation kräftig gejodelt wird. Wie trügerisch ist doch die Idylle geworden. Wie sehr trügt der Schein.

Dazu geht Frontmann Kryptic Joe im Wald mit einem Roboterhund spazieren. Kryptic Joe alias Philipp Gütering schrammt mit seinen 49 Jahren noch knapp am Best-Ager vorbei. In seiner an das derzeit wegen seiner bizarren roten Astro-Boy-Gummistiefel hochgehypte Label MSCHF erinnernden Outdoor-kleidung in hochmodischer Überdrübergröße wirkt der Mann selbst noch als Kunstfigur erheblich abgelebt. Die fitten Jahre sind vorbei.

"Rest in Fleece"

Der Roboterhund kommt von der auch für das US-Militär arbeitenden und zum Hyundai-Konzern gehörenden Firma Boston Dynamics. Man kann das Spot gerufene Vieh zur Not mit einer Waffe bestücken. Das wiederum wurde von der erwähnten, mit Deichkind durchaus artverwandten spaßigen Künstlergruppe MSCHF mittels Paintball-Gewehrs schon für eine interaktive Online-Aktion namens "Spot’s Rampage" zum großen Ärger der Herstellerfirma unter Beweis gestellt. Ach, alles ist so kompliziert geworden! Die Welt befindet sich in ähnlicher Schieflage wie die Straßenlaterne, die auf dem Cover von Neues vom Dauerzustand zu sehen ist.

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In der Nachfolge von alten Slogans wie "Arbeit nervt" oder "Like mich am Arsch" beschäftigen sich Deichkind dieses Mal verstärkt mit dem Älterwerden. Einen Höhepunkt des Albums stellt Kids in meinem Alter dar. Wunderbar betitelt, tuckert das Lied Muckibudengestählt wie Anfang der 1980er-Jahre die Deutsch-Amerikanische Freundschaft durch die Gegend. Es beinhaltet neben selbstkritischen Sätzen wie "Kids in meinem Alter haben Geld und schieben Frust" das wunderbare Motto "Rest in Fleece". Womit wir wieder draußen an der frischen Luft wären.

Wie bei den meisten anderen Stücken auch vertrauen Deichkind musikalisch auf längst Bewährtes. Mit behämmerten und deshalb zart bedröhnten Technobeats und verstrahltem Hip-Hop, der wie die anderen Stücke gern mit Sägezahn- und Katastrophenalarm-Sounds behübscht wird, bekommt im Stück Auch im Bentley wird geweint schließlich der deutsche Gangster-Hip-Hop der Marke Bushido und Haftbefehl sein Fett weg: "Ich hab’ Klopapier von Gucci, schneid’ Delfine in mein Sushi / Zerballer’ mir die Leber, und die Spender sind nur Nutzvieh." Oder auch: "Blick auf die Rolex – Zeit für eine Breitling." Die Zeit läuft ab. Schade, aber so hat es ja kommen müssen. (Christian Schachinger, 17.2.2023)