Die ukrainischen Soldaten und Philosophieschüler von Serhii Forkosh nutzen jede freie Minute, in der sie nicht ums Überleben kämpfen, zum Lesen und Schreiben.

Foto: Andrey Koren

In der Steppe von Donezk ist es bereits dunkel, doch es herrscht keine Stille. Granatenexplosionen und gelegentliches Maschinengewehrfeuer sind in der Ferne zu hören, die Intensität der Kämpfe ist aber geringer als am Tag. Ein paar Kilometer weiter hält ein Pick-up in einem Waldstück an. Er hat eine Starlink-Satellitenantenne im Kofferraum. Der junge Soldat versucht, das beste Signal zu finden, um mich in Wien zu erreichen, denn wir haben einen Termin für ein Philosophieseminar vereinbart.

Hätte ich mir vor ein paar Jahren, als ich den "Kyiv Kreis für Philosophie" aufbaute, vorstellen können, dass Studenten, die sich für Literatur und Philosophie entschieden hatten, aus dem Schützengraben mit mir in Kontakt treten würden? Hätte ich mir vorstellen können, dass ich einen engen Freund im Krieg verlieren würde?

Oleksandr Smaglyuk.
Foto: "Morda", Menyaylov, Hordiienko

Vereinende Philosophie

Damals, in der Vorkriegszeit, nach meiner Habilitation, für die ich zum Teil in Wien bei Prof. Georg Stenger forschte, träumte ich davon, einen Ort zu schaffen, an dem die freie Ausübung der Philosophie nicht durch Bürokratie und trägen Akademismus belastet würde. Ich hielt es für notwendig, dass die Philosophie – wie einst – die Menschen verschiedener Berufe vereint. Politiker, Künstlerinnen, Wissenschafter, Ingenieurinnen und Philosophen sollten gemeinsam an einem Tisch über die wichtigsten Dinge sprechen. Ein Geist gegenseitiger Achtung sowie eine inspirierte Suche nach der Wahrheit könnten, so glaubte ich, wie in früheren Zeiten, die Menschen veredeln.

Ich bemühte mich darum, nicht nur Menschen zu finden, die die Philosophie brauchen, sondern Menschen, die für die Entwicklung der Philosophie selbst wichtig wären. Ich war auf der Suche nach Menschen, bei denen der Wille zum Denken mit dem Willen zum Schaffen verbunden ist, bei denen Denken und Handeln nicht durch eine unüberwindbare Mauer getrennt, sondern in einem einzigen schöpferischen Antrieb vereint sind. Die junge Generation reagierte. Zu meiner freudigen Überraschung traf ich junge Leute, deren intellektuelle Reife und moralische Werte mich begeisterten.

Das Wesen der Dinge

Hier sollte ich etwas erklären. Die junge ukrainische Generation hat eine bemerkenswerte Eigenschaft: Ihre Fragen beziehen sich nicht nur darauf, wie man etwas verbessern oder regeln kann, sondern sie beziehen sich auf das Wesen der Dinge selbst, auf etwas Ursprüngliches. Sie wollen beispielsweise nicht nur wissen, wie die Literaturkritik funktioniert, sondern was das Wesen der Literatur im Allgemeinen ist, nicht nur, wie man den Mechanismus des politischen Drucks reduziert, sondern was die Politik als solche ist und was schließlich ihre Bedeutung ist. Darin sah ich ein Zeichen dafür, dass sich die Ukraine in einer konzeptionellen Phase ihrer geschichtlichen Entwicklung befindet, was bedeutet, dass die Philosophie in diesem Prozess eine der wichtigsten Rollen spielen muss.

Der Philosophie dienen

Der Kyiv Kreis für Philosophie war in der Ukraine nicht sehr bekannt. Dies lag zum Teil auch daran, dass unsere Herangehensweise an philosophische Fragen durch ein vollständiges Eintauchen in das Problem, ein gründliches Studium des Themas und höchste Aufmerksamkeit für die Feinheiten und Nuancen der philosophischen Arbeit gekennzeichnet war. Wir wollten Interdisziplinarität mit strenger methodischer Arbeit verbinden. Wir sahen unsere Aufgabe eindeutig nicht darin, die Bevölkerung "aufzuklären", wir wollten die Tiefe der philosophischen Konzepte nicht vereinfachen oder abschwächen. Wir wollten der Philosophie dienen und sie nicht in ein Instrument des Trostes verwandeln.

Die Phänomenologie stand im Mittelpunkt unserer Bestrebungen. Unter dem Blickwinkel der Phänomenologie haben wir die gesamte Geschichte der Philosophie betrachtet. Insbesondere die phänomenologische Klärung der Texte der großen Philosophen der deutschen klassischen Philosophie war für uns von besonderer Bedeutung.

Während meines Aufenthalts an der Universität Wien beschloss ich außerdem, Georg Stengers bahnbrechende Studie Philosophie des Interkulturalismus – Die Phänomenologie der interkulturellen Erfahrung ins Ukrainische zu übersetzen. Diese Abhandlung verbindet eine filigrane Methodik, die auf einer tiefen phänomenologischen Tradition beruht, mit einer Analyse aktueller und sogar brisanter Probleme der modernen Welt. Meine Arbeit an dieser Übersetzung geht auch jetzt noch weiter.

Serafym Hordienko.
Foto: "Morda", Menyaylov, Hordiienko

Thema des Willens

Aber es ist der Morgen des 24. Februar 2022. Ein hinterhältiger und heimtückischer Angriff durch einen terroristischen Staat. In Kyiv sind donnernde Explosionen zu hören. Es herrscht Panik. In den ersten Wochen des Krieges meldeten sich einige Mitglieder des Kyiv Kreises für Philosophie zur Territorialverteidigung, andere meldeten sich als Freiwillige. Mein enger Freund Yevhen Volchenko, ein aktives Mitglied unseres Kreises und Arzt, beschloss, ein Zentrum für die medizinische Rehabilitation von Soldaten und Soldatinnen zu gründen.

Oleksandr Smaglyuk, einer meiner Schüler, beteiligte sich seit den ersten Kriegstagen an der Verteidigung von Kyiv. Vor dem Krieg schrieb er viel. Seine Gedichte sind ausgewogen, ihre subtilen Muster enthüllen komplexe Intuitionen und unerwartete Themen. Er ist ein Kenner des Kinos. Er bewundert Novalis, Rilke und Hofmannsthal. Unter meiner Anleitung arbeitet er seit einigen Jahren intensiv an Schellings Abhandlung System des transzendentalen Idealismus, ebenso wie andere meiner Schüler. Der Autor der Abhandlung war zum Zeitpunkt der Abfassung fünfundzwanzig Jahre alt, ebenso wie Oleksandr, als er mit der Arbeit an dem Werk begann. Sein besonderes Interesse gilt dem Thema des Willens. Mit seiner militärischen Erfahrung ist er nun auf dem Weg zu seiner eigenen Philosophie des Willens.

Poesie an der Front

Einige meiner jüngeren Schüler beschlossen sofort nach Kriegsbeginn, sich den ukrainischen Streitkräften anzuschließen. Serafym Hordienko und Oleksandr Menyaylov waren neunzehn Jahre alt, und der Eintritt in die Armee war nicht einfach, aber sie setzten sich durch. Schreckliche Schlachten erwarteten sie, freudige Siege, Militärausbildung im Ausland und vieles mehr. Aber seit dem 24. Februar 2022 blieb eines konstant – unsere philosophischen Gespräche und Seminare.

Natürlich lässt sich nicht vorhersagen, wann meine Schüler sich melden werden. Manchmal flauen die Kämpfe ab und Oleksandr Menyaylov schafft es, einen großartigen Essay zu schreiben, in dem er über die Geschehnisse nachdenkt, oder es gelingt ihm, Heideggers Texte zur Poesie Hölderlins zu lesen. Alle drei schreiben Gedichte. Sie haben sie vor dem Krieg geschrieben, aber jetzt lesen sich ihre Gedichte besonders berührend. Manchmal gibt es ganze Wochen, in denen es unmöglich ist, einander zu kontaktieren. Dann weiß ich, die Intensität der Kämpfe nimmt wieder zu, was meinen Schülern vollen Einsatz und Konzentration abverlangt.

Der Wert des Lebens

Es ist das Schicksal meiner Philosophieschüler, ein Leben zu erfahren, das plötzlich abrupt beendet werden kann. Jedes Mal, wenn sie ihr Leben riskieren und erneut unter Beschuss geraten, wird ihnen der Gedanke an den Wert des Lebens brutal vor Augen geführt.

Wie sich herausstellt, gibt es zwischen Philosophie und Krieg eine gewisse Gemeinsamkeit. Der Krieg wirft einen Menschen aus der klar umrissenen Welt seines Lebens in eine neue, unbekannte Dimension. Auf diese Weise zeigt sich die Verwurzelung des Menschen in der vertrauten und gewohnten Welt. Im Krieg, in Grenzsituationen, erfährt der Mensch die Endlichkeit der eigenen Existenz. Erfahrung ist hier das wichtigste Wort. Denn die Explosionen des Artilleriefeuers werden erlebt, sie erfassen den ganzen Körper und lähmen manchmal das Bewusstsein. Ein Soldat an der Front ist jederzeit an seiner Belastungsgrenze. Diese Grenze eröffnet eine neue Dimension der Existenz. Hier steht der Tod Seite an Seite mit dem Leben, sie sind einander ganz nahe, manchmal trennen sie nur wenige Augenblicke.

Oleksandr Menyaylov.
Foto: "Morda", Menyaylov, Hordiienko

Wütende Barbarei

Auch die Philosophie bewegt sich auf Grenzen zu, will sie identifizieren, erfassen und überwinden. Ein Philosoph ist jemand, der einerseits die Vielfalt des Seins anschaut und darüber nachdenkt, aber andererseits ist ein Philosoph jemand, der seinen Blick auf das Andere, auf das Nichts richtet. Sasha und Seraphim, beide in ihren Zwanzigern, wissen das bereits. Sie haben bereits beide Seiten der Welt gesehen. Für diese jungen Soldaten ist die uralte Frage "Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?" keine spekulative, sondern eine ganz konkrete.

Die Zeit wird kommen, und alle meine Philosophieschüler werden ein hohes Alter erreichen und ihre Memoiren über diese schreckliche Zeit schreiben, über ihre Heldentaten, über die Freunde, die sie verloren haben, und darüber, wie sie unseren Sieg erlebt haben. Eines Tages ...

Philosophische Praxis

Doch die philosophische Praxis geht weiter. Den Willen zur Kultur und Ausbildung der jungen ukrainischen Soldaten kann kein Krieg aufhalten. Im Gegenteil, er wird ihre Erfahrungen vertiefen und sie in der Überzeugung bestärken, dass kulturelle Entwicklung und philosophisches Denken unerlässlich sind, um die wütende Barbarei zu besiegen.

In unserem nächsten Seminar mit Serafym werden wir Ludwig Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus erörtern, der selbst in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs geschrieben wurde. Die Geschichte liebt diese Art von Spiel.

Wenn Serafym eine freie Minute hat und es die Umstände erlauben, macht er sich akribisch Notizen zu jeder Bestimmung des Traktats. Bei unserem nächsten Seminar via Starlink wird sein Gesicht aus dem Dunkel der Nacht im Donbas auftauchen, und wir werden erneut in die Welt des philosophischen Denkens eintauchen. Ich hoffe ... (Serhii Forkosh, 17.2.2023)