Nach der Pandemie sollten die EU-Staaten mehr Flexibilität beim Schuldenabbau erhalten. Geht es nach der EU-Kommission, bekommen vor allem hochverschuldete Länder des Südens mehr Spielraum beim Abbau der Schulden. Die Regeln sind seit Beginn der Corona-Pandemie ausgesetzt. Einigen sich die EU-Länder auf keine Reform, treten sie mit Anfang 2024 in alter Form in Kraft. Das würde wohl mehreren Mitgliedsstaaten einen rigiden Sparkurs abverlangen, der die EU in eine eben abgewendete Rezession stürzen könnte.

Christian Lindner (rechts) gemeinsam mit Magnus Brunner (links) am Opernball in Wien.
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EU-Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni erklärte dieser Tage, er erwarte nicht, dass wieder etwas Gravierendes dazwischenkomme, das eine Verlängerung erfordern würde: "Wir hatten bereits genug außerordentliche Ereignisse", mahnte er zur Eile: "Die Zeit ist nicht unbegrenzt." Bis zum EU-Gipfel im März müssten die Regierungen sich einigen, damit die Kommission wie geplant im Frühjahr einen Gesetzesvorschlag vorlegen kann.

Süden gegen Norden, die Achse ist bei der Debatte nicht außer Kraft gesetzt. Während Länder wie Italien auf höchstmögliche Flexibilität pochen, drängen Länder wie Österreich, Deutschland und auch Finnland auf eine Rückkehr zu einer strikteren Sparpolitik und fürchten eine Aufweichung der Regeln.

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FÜR: Reist Christian Lindner (FDP) nach Wien, tut er dies nicht nur, um mit Magnus Brunner (ÖVP) in lauschiger Loge auf dem Opernball Sekt zu schlürfen. Es geht um mehr: Deutschlands Finanzminister und sein Ressortkollege sehen sich als Verbündete im Kampf für solide Staatsfinanzen. Man will zurück zur fiskalpolitischen Disziplin. Dafür gibt es gute Gründe:

Länder mit hoher Schuldenquote können schnell in eine Krise rutschen, und ausufernde Schuldenberge hemmen Wachstum. Dazu kommt das Ende des billigen Geldes: Verschuldung wird für Staaten teurer und die Spielräume im Budget für wichtige Investitionen schrumpfen. Deswegen ist es richtig, auf den Pfad der Tugend zurückzukehren. Der Stabilitätspakt sieht ja vor, wie viele Schulden die EU-Staaten machen dürfen: Defizit nicht mehr als drei Prozent des BIP pro Jahr, Schuldenstand nicht mehr als 60 Prozent der Wirtschaftskraft. Viele EU-Staaten sind davon nach Corona-Pandemie und den Entlastungspaketen gegen die exorbitant gestiegenen Energie- und Lebensmittelpreise noch viel weiter als Österreich entfernt. Nun, da sich die Lage etwas entspannen dürfte, drängt die EU-Kommission, die bis Ende 2023 ausgesetzten Regeln zu überarbeiten. 2024 sollen sie in Kraft treten. Demnach soll mit jedem Mitgliedsstaat ein maßgeschneiderter Schuldenabbauplan ausverhandelt werden. Staaten sollen innerhalb von vier Jahren einen nachhaltigen Abbaupfad einschlagen, der auf sieben Jahre verlängert werden kann. Kommt ein Land vom Weg ab, würde ein Defizitverfahren eingeleitet werden, inklusive verschärfter Aufsicht der Kommission. Dafür spricht einiges. Denn müsste etwa Italien die Schuldenobergrenze einhalten, wäre ein drastischer Sparkurs – wie einst in Griechenland – vorprogrammiert, soziale Unruhen wären nicht auszuschließen. Es braucht also mehr Flexibilität. (Regina Bruckner, 19.2.2023)

WIDER: Seit Beginn der Pandemie sind die Schuldenregeln außer Kraft gesetzt, so richtig funktioniert haben sie schon davor nicht. Immer wieder wurde gegen die sogenannten Maastricht-Kriterien verstoßen. Alleine die Drei-Prozent-Defizit-Grenze wurde in Finanzkrisenzeiten von 2009 bis 2012 in den 27 EU-Staaten 75-mal gebrochen. Von Strafzahlungen gegen Defizitsünder wie Spanien wurde abgesehen. Dass eine Reform unausweichlich ist, ist klar.

Wie weit sie gehen soll, darüber gehen die Meinungen naturgemäß auseinander. Dass allgemeingültige Regeln mit dem Plan der EU, mit jedem Land einzeln Schuldenabbaupläne zu erarbeiten, faktisch abgeschafft werden, das birgt auch Gefahren. Der deutsche Bundesbank-Präsident Joachim Nagel brachte es auf den Punkt: "Die Kommissionsvorschläge sind kein geeigneter Weg, den gemeinsamen fiskalischen Rahmen hin zu größerer Transparenz und höherer Verbindlichkeit weiterzuentwickeln", sagte er dieser Tage auf einer Veranstaltung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung. Stattdessen drohten aufgeweichte Fiskalregeln, deren Herleitung kaum nachvollziehbar sei. Denn auch wirtschaftspolitische Ziele der Staaten sollen berücksichtigt werden. Dazu kommt der Ruf aus einzelnen Fraktionen, man müsse den Staaten Ausnahmen bei den Schuldenregeln etwa für erneuerbare Energien oder Mietpreisdeckel einräumen.

Auch wenn die Schuldenlage in Europa derzeit vergleichsweise entspannt ist – weil die hohe Inflation die Schuldenstände sinken lässt –, ist die Sorge berechtigt, dass die zwischen Kommission und den einzelnen Ländern ausgehandelten Haushaltspläne zu wenig ambitioniert ausfallen.

Die wirtschaftlichen Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern zu berücksichtigen und dennoch ernst zu nehmende Leitplanken einzuschlagen ist die Herausforderung. Zu viel Elastizität wäre aber kontraproduktiv. (Regina Bruckner, 19.2.2023)