Igel gehören zu regelmäßigen Besuchern in Gärten und Parks. Obwohl die Stachelträger große Bekanntheit genießen, gibt ihre Lebensweise Rätsel auf.
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Vermutlich werden nicht sofort Schulbücher umgeschrieben, Lehrpläne umgestellt und der Biologieunterricht umgekrempelt. Dennoch dürfte ein ungewöhnlicher Fund aus Dänemark zumindest dazu führen, bisherige Annahmen zur Lebensdauer von Igeln zu hinterfragen. Bislang ging man davon aus, dass die Tiere in freier Wildbahn zwischen drei und sieben Jahre alt werden können. Ein 16-jähriges Exemplar versetzt Expertinnen und Experten nun allerdings in Staunen.

Rätselhafte Zeitgenossen

Trotz ihrer Bekanntheit geben Igel der Wissenschaft nach wie vor Rätsel auf. So ist bisher unklar, wie viele Igel sich überhaupt in Europa tummeln und wie ihre Populationen zusammengesetzt sind. Hinzu kommt die Frage, wie lange die Tiere nun wirklich leben können. Durch diese Wissenslücken ist schwer abzuschätzen, wie stark die Igel-Bestände durch fehlende Überwinterungsplätze, den Mangel geeigneter Habitate und das massenhafte Überfahrenwerden schon dezimiert wurden.

Um Klarheit zu erlangen, haben Sophie Lund Rasmussen von der Universität Aalborg und ihre Kollegen ein Citizen-Science-Projekt gestartet. Freiwillige sollten dabei in ganz Dänemark tot aufgefundene Igel einsammeln und einschicken. Das Biologenteam untersuchte die eingesandten Igel – insgesamt 697 Stück – und konnte bei 388 Exemplaren die Kieferknochen herauspräparieren. Diese untersuchten die Forschenden im Anschluss auf Wachstumslinien im Knochen.

Die Linien entstehen, da das Wachstum der stachelbewährten Säugetiere während des Winterschlafs stoppt. Wie an den Jahresringen eines Baumes lässt sich an den Wachstumslinien das Alter der Igel ablesen.

Die Biologin Sophie Lund Rasmussen untersucht den Kieferknochen eines Igels.
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Methusalem der Igelwelt

Die Altersbestimmung enthüllte, dass besonders junge Igel ein gefährliches Dasein fristen. Rund ein Drittel aller untersuchten Exemplare starb bereits im Alter von weniger als einem Jahr – größtenteils, weil sie im Straßenverkehr überfahren wurden. Im Schnitt lag die Lebenserwartung der untersuchten Igel bei 1,8 Jahren. "Das ist positiv, denn es bedeutet, dass die Igel die Chance haben, an zwei Paarungs- und Fortpflanzungssaisonen teilzunehmen", erklärt Rasmussen.

Hat ein Igel einmal die frühe Phase seines Lebens überstanden, kann er deutlich älter werden als bislang angenommen: In ihrer Stichprobe fanden die dänischen Biologinnen und Biologen einen Igel, der erst mit 16 Jahren das Zeitliche segnete. Er ist damit der bisher älteste Igel der Welt und übertrumpfte den bisherigen Rekordhalter um sieben Jahre. Zwei weitere Igel erstaunten das Team: Einer wurde elf Jahre alt, ein anderer brachte es auf 13 Lebensjahre.

Riskante Jugendjahre und Altersweisheit

Für die Forschenden steht fest, dass die Lebenserwartung eines Igels stark davon abhängt, wie gut er in seiner Jugend mit den in seiner Umwelt lauernden Gefahren umgehen kann. "Die Hürde, älter als zwei Jahre zu werden, hängt wahrscheinlich eng mit den erhöhten Risiken in diesem Alter zusammen", führt Rasmussen aus. Denn einerseits sind gerade junge Igel besonders oft von Parasiten befallen, andererseits fehlt es ihnen an der nötigen Erfahrung, um Lebensbedrohliches wie den Straßenverkehr zu erkennen.

Erst mit der Zeit würden die Igel mehr Erfahrung sammeln. "Wenn sie bis zum Alter von zwei oder mehr Jahren überlebt haben, haben sie vermutlich schon gelernt, Bedrohungen durch Autos und Fressfeinden aus dem Weg zu gehen", erklärt die Biologin. Wie viele Igel Opfer von Raubtieren werden, ist allerdings unklar. Zumindest konnte dies in der im Fachblatt "Animal" publizierten Studie nicht eruiert werden, da die meisten eingesandten Igel im Straßenverkehr oder an natürlichen Ursachen – etwa Infektionen oder Parasiten – zugrunde gegangen waren.

Männchen haben es (meist) leichter

Auffällig war hingegen das Geschlechtergefälle, das sich bei der Lebensdauer von Igel-Männchen und -Weibchen zeigte: Männliche Exemplare leben durchschnittlich 24 Prozent länger als die Weibchen. Anstatt bei 1,6 Jahren liegt ihre mittlere Lebenserwartung bei 2,1 Jahren. Diese Erkenntnis erstaunt, da bei den meisten Säugetierarten die Weibchen langlebiger sind als ihre männlichen Artgenossen.

"Dieser Unterschied geht wahrscheinlich auf die Tatsache zurück, dass es die männlichen Igel schlicht leichter haben", sagt Rasmussen. Da die Männchen nicht territorial sind, müssen sie nur selten Kämpfe überstehen. Weibchen müssen sich hingegen alleine um die Aufzucht ihre Jungen kümmern.

Nichtsdestotrotz hat auch das Dasein als Igel-Männchen seine Schattenseiten. Im Gegensatz zu Igel-Damen wandern die männlichen Tiere mehr umher und müssen damit auch häufiger Straßen queren. Als Konsequenz daraus werden sie auch häufiger überfahren.

Das Überqueren von Straßen kann für Igel zum Verhängnis werden. Besonders junge, unerfahrene Tiere lassen dabei oft ihr Leben.
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Gefährlicher Sommer und Herbst

Straßen, die durch die Lebensräume von Igeln verlaufen, stellen die größte Hürde für das Älterwerden dar. Besonders viele der nachtaktiven Tiere werden in den Sommermonaten überfahren. Im Herbst verenden die Säuger hingegen hauptsächlich an Krankheiten, Hunger oder Dehydrierung. Letzteres führen die dänischen Forschenden darauf zurück, dass die Weibchen im Herbst von der Jungenaufzucht und die Männchen von der intensiven Paarungszeit erschöpft sind.

Im Zuge des Citizen-Science-Projekts ergab sich auch eine weitere interessante Erkenntnis: Obwohl viele Igel einen hohen Grad an Inzucht aufweisen, scheint dies ihre Lebenserwartung nicht negativ zu beeinflussen. Normalerweise tragen Tiere mit genetischer Verarmung ein höheres Risiko für erblich bedingte Defekte und Krankheiten.

Doch selbst die Igel mit reduzierterem Genpool lebten nicht kürzer als ihre Artgenossen mit variablerem Genom. Für Rasmussen und ihr Team ist diese Feststellung durchaus erfreulich, wie die Biologin erklärt: "Aus Sicht des Artenschutzes ist das eine sehr positive Nachricht." (Marlene Erhart, 20.2.2023)