Zählt seit kurzem 70 Jahre: Der bosnische Autor Dževad Karahasan, Zeuge der Belagerung Sarajevos und ruheloser Skeptiker.

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Kein Altertumsforscher hat jemals glühendere Worte der Verehrung gefunden als der Waliser Peter Hurd. Er nehme allein schon wegen seines Charismas den Platz von niemand Geringerem als dem berühmten Robert Graves ein: "als Symbol und klares Zeichen der kulturellen Kontinuität vom antiken Griechenland bis heute". In seinem neuen Roman schreibt Dževad Karahasan das postjugoslawische Bürgerkriegsjahr 1992. Hurd, vom Erzähler unmäßig belobhudelt, gastiert ausgerechnet zur Unzeit in Sarajevo. Dort, an diesem von Belagerung und Auslöschung bedrohten Ort, stellt der Mythenforscher gemeinsam mit Übersetzer Rajko, selbst Bosnier, sein neues Buch vor.

An Normalität ist längst nicht mehr zu denken. Die Stadt wird sukzessive umzingelt. Doch Hurd will bleiben: Er scheint begierig, sich an der Seite der serbischem Beschuss ausgelieferten Bosniaken der Gefahr zu stellen. Die Mutwilligkeit seiner Entscheidung kann auch der Erzähler nicht schönreden: "Der Mensch von heute erwirbt nur brauchbares Wissen (…). Peter nannte solche Menschen Sklaven, er sagte, der Sklave habe auf seiner linken Schulter immer den Dämon des Nutzens sitzen."

Doch ist das belagerte Sarajevo eben kein Ausbildungscamp für angehende Herrenmenschen. Zum zweiten Mal nach dem Tagebuch der Übersiedlung (2021) beschreibt Karahasan den niederschmetternden Alltag in der eingekesselten Stadt. Mit Sarajevo wird ausgerechnet ein Symbol des interkulturellen Zusammenlebens bedroht und eingeschüchtert.

Zur Kunstfertigkeit des Karahasan’schen Tons gehört die Vorspiegelung einer unzerstörbaren Ordnung. Diese spiegelt sich in Hochzeitsfesten, die ohne den eben gefallenen Bräutigam abgehalten werden – und dennoch vor dem Gott der muslimischen Überlieferung Bestand haben. Sie kehrt wieder in den nüchternen, sachdienlichen Beschwörungen familiären Zusammenhalts. Sie behält ihre Autorität noch dann, wenn Menschen, von Granaten zerrissen, sich "buchstäblich in rote Tröpfchen verwandeln".

Westentaschen-Nietzsche

Die Einübung ins Schweben, so der Titel von Karahasans bedrückendem Werk, ist ein Kunststück, dessen Erlernung nicht gelingt. Während Rajko sich anteilnehmend um seine Angehörigen kümmert, kommt Hurd, der Westentaschen-Nietzsche, der Erzählung beinah abhanden. Er verschwindet während langer Tage im Dickicht der Stadt. Dann dünstet er Drogenschweiß aus und reizt seinen zusehends erzürnten Freund mit törichten Bekundungen seines Schreibstuben-Extremismus. Man liest beinah hinweg über Hurds Frohlocken, sein gesteigertes Erleben angesichts von Tod und Brand. Der Rauch schwebe über Sarajevo, ebenso die Seelen der Ermordeten und Unbestatteten. Prompt findet der Angelsachse aus dem Staunen nicht heraus.

Während die Freunde noch rätseln, ob die Dunkelheit, die in ihre Seelen kriecht, stofflicher Natur sei, nimmt Karahasans meisterlicher Roman eine andere Abzweigung. Das Verlassen der Stadt hält Überraschungen für beide bereit: Rajkos Ahnungen über Peters skandalöses Verhalten während der Belagerung bestätigen sich. Über die Bande eines eingeschalteten Gleichnisses – ein Text im Text – offenbart sich der blinde Amoralismus der übergeschnappten Freundesfigur.

Die Vielheit des Menschen

Zum Schluss führt Karahasan ein kühnes Motiv neu ein. Täterschaft, ist da in Anlehnung an Miguel de Unamuno zu lesen, steht und fällt mit der Faszination für die Macht des Bösen. Es kann der Anblick eines simplen Papiermessers sein, der Blutdurst weckt und die Lust am Terror wachruft. Wie sagt Hurd treffend, ehe er vollends in geistige Umnachtung sinkt? "Meine jüngsten Erfahrungen haben mir offenbart, dass ich – viele bin." Nur Gott ist dieser Vielheit keiner beigemengt. (Ronald Pohl, 21.2.2023)