Der Westen ist schuld. Der Westen hat irgendwie verursacht, dass Russland die Ukraine überfallen hat und einen Vernichtungskrieg gegen sie führt. Sagt zumindest Wladimir Putin in seiner Rede an die Nation.

Aber der Westen ist auch schuld daran, dass vielversprechende Friedensverhandlungen scheiterten. Sagt Putin und sagt auch die freischwebende Linke Sahra Wagenknecht auf Twitter: "Bennet (sic!) arbeitete im März 2022 an einer Verhandlungslösung. Jetzt bestätigt der ehemalige israelische Ministerpräsident Berichte, dass ein Waffenstillstand in der Ukraine am Westen, vor allem an Großbritannien & den USA gescheitert ist."

Hat er seine Rolle in Friedensverhandlungen übertrieben? Naftali Bennett, im März 2022 israelischer Premier.
Foto: EPA / Abir Sultan

Tatsächlich hat der rechtsgerichtete ehemalige israelische Ministerpräsident Naftali Bennett im März 2022 auf eigene Faust eine Friedensinitiative zwischen Russland und der Ukraine unternommen. In einem fünfstündigen TV-Interview mit einem israelischen Journalisten sagte er sinngemäß, die beiden Parteien seien einander schon sehr nahegekommen, bis plötzlich der britische Premier Boris Johnson in Kiew auftauchte und den ukrainischen Präsidenten praktisch dazu zwang, weiterzukämpfen.

Zahlreiche Thesen

Wie ernst ist das zu nehmen? Fakt ist, dass die beiden Parteien zu Beginn des Krieges verhandelten, sowohl in relativ rangniedrigen Kommissionen wie auch die beiden Außenminister Sergej Lawrow und Dmytro Kuleba im türkischen Antalya. Was Bennett als fast ausgehandelten Kompromiss darstellt, ergibt aber wenig Sinn. Die Ukraine hätte sich bereiterklärt, auf einen Nato-Beitritt zu verzichten (der völlig unwahrscheinlich ist), Russland auf die weitere "Entwaffnung" und "Denazifizierung" der Ukraine. Ob sich Russland auf die Linie vor dem Kriegsbeginn am 24. Februar zurückziehen würde oder auf den bereits erzielten Geländegewinnen stehen bleiben würde, sei offen gewesen.

Dann aber seien einerseits die Gräueltaten der Russen von Butscha und anderswo bekannt geworden; und andererseits habe Johnson durch Druck auf den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj die Unterzeichnung des Vertrags verhindert. Dies behauptet auch der frühere Generalinspekteur der deutschen Bundeswehr, Harald Kujat, unter Berufung auf "zuverlässige Informationen" in einem Interview mit der der rechtsgerichteten Schweizer Zeitschrift Zeitgeschehen im Fokus.

Diese Version wurde – unter Berufung auf Bennett – auch in der ORF-Doku von Christian Wehrschütz und Alfred Schwarz aufgetischt, allerdings mit der Bemerkung: Ein "Beweis für diese These fehlt".

Fehlende Plausibilität

Kein Wunder, denn es fehlt ihr massiv an Plausibilität. Warum hätte Putin von seinem Plan, die Ukraine zu unterwerfen und ihre Regierung zu stürzen ("Entnazifizierung") nach seinem massiven Angriff plötzlich ablassen sollen? Warum hätten die Ukrainer, die zu Beginn der Krieges überraschende Erfolge erzielten, klein beigeben sollen? Wieso hätte plötzlich der erratische britische Premier im Alleingang den Ukrainern das Weiterkämpfen verbieten oder erlauben können? Was Kujats "zuverlässige Informationen" betrifft – der General a. D. hat schon einmal Russlands kriegsverbrecherisches Eingreifen in Syrien als "friedensstiftend" bezeichnet. Und schließlich Bennett selbst: Hat der vielleicht seine Rolle krass übertrieben? (Hans Rauscher, 21.2.2023)