Der Hubschrauber als Massentransportmittel in der Stadt: Nicht alle Zukunftsvisionen von 1957 trafen tatsächlich ein.

Foto: Greifenverlag

Moskau, ein heißer Tag im Sommer des Jahres 1957: Der Chefredakteur der kommunistischen Jugendzeitung "Komsomolskaja Prawda" ruft zwei seiner Redakteure zu sich ins Büro. Ist die Idee dem Sommerloch entsprungen oder doch einem sowjetischen Parteigremium? Ganz genau lässt sich das heute nicht mehr sagen. Doch der Job, den Michail Wassiljew und Sergej Guschtschew an diesem Tag bekommen, ist besonders: Sie sollen schreiben, wie die Welt im 21. Jahrhundert aussieht. Dazu sollen sie dutzende führende Sowjetwissenschafter interviewen.

Herausgekommen ist eine "Reportage aus dem 21. Jahrhundert", die 1959 gleich zweimal in deutscher Übersetzung erscheint: Einmal im ostdeutschen Greifen-Verlag, einmal im kapitalistischen Westen im Hamburger Verlagshaus Nannen. Es ist ein Buch, das vieles, was unseren Alltag heute wie selbstverständlich prägt, präzise vorwegnimmt. Viele Probleme unserer Gegenwart sehen die Wissenschafter – ausschließlich Männer – klar voraus, andere unterschätzen sie massiv. Manches, das sie für das frühe 21. Jahrhundert prophezeien, ist auch heute noch reine Utopie. Und an einigen Stellen äußern die Sowjet-Forscher sogar deutliche Kritik an der politischen Führung ihres Landes.

Videochats und smarte Verkehrszeichen

Eines vorweg: ChatGPT haben die Wissenschafter nicht vorhergesehen. Das Internet hat sich in ihrer Beschreibung aber selbst im hintersten Winkel des Urals durchgesetzt. Die Menschen verwenden es, um Bücher zu lesen, Filme zu streamen, für Videochats auf Mobiltelefonen oder für Meetings auf großen Flachbildschirmen.

Selbstfahrende Elektroautos dominieren die Straßen des 21. Jahrhunderts.
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Doch auch das Internet der Dinge hat in den Vorstellungen der Forscher im frühen 21. Jahrhundert bereits Raum gegriffen. Selbstfahrende Autos kommunizieren mit Verkehrsschildern, um ein sicheres und schnelles Vorankommen zu gewährleisten. Über Land beträgt die Reisegeschwindigkeit im Mietwagen – Autos in Privateigentum kommen im kommunistischen Zukunftsszenario nicht vor – solide 250 Stundenkilometer.

Autofreie Städte und Elektro-Antriebe

Welcher Motor dafür sorgt, da gehen die Meinungen der Forscher auseinander. Während die einen die Gasturbine als Antrieb der Zukunft preisen, sehen andere diese – und den zum Ende des 20. Jahrhunderts konkurrierenden Atommotor – bereits durch Elektroantriebe abgelöst. Die Energie dafür kommt aber nicht aus schweren Akkus, sondern wird über ein Magnetfeld bezogen, das unter der Straße verlegte Kabel erzeugen.

In die Städte dürfen die Autos des 21. Jahrhunderts aber nicht einfahren – zumindest wenn es nach Wassili Swonkow, korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, geht. Denn nur mit großem Argwohn erinnert sich Swonkow an seinen Besuch im Moloch New York und das neuartige Phänomen des Staus im automobilen Frühverkehr: "Bitte sehr, fahren Sie ruhig an die Stadtgrenze heran. Aber dann seien Sie so gut, Ihr Auto schön stehen und warten zu lassen. Denn im Inneren der Stadt werden andere Verkehrsmittel für Ihre Beförderung sorgen." Und zwar "rollende Trottoire" und – Hubschrauber.

Unendliche Ölquellen und gesteuerter Klimawandel

Wo der Strom für den elektrifizierten Straßenverkehr herkommt, ist für die Wissenschafter schnell geklärt: Wärme- und Atomkraftwerke teilen sich den Großteil der Arbeit, Wasserkraft liefert zehn Prozent der nötigen Ressourcen. Photovoltaik oder Windkraft spielen in den Überlegungen aus den 1950ern keine Rolle, Geothermie nur in sehr kleinem Maße. Dafür soll die Atomkraft auch dazu dienen, Flugzeuge, Schiffe und Züge anzutreiben. Sicherheitsbedenken: Fehlanzeige.

Und auch dass irgendwann das Erdöl für die vielen Kraftwerke ausgehen könnte, glauben die Sowjetexperten nicht. Hohe Erwartungen setzen sie zudem in das heute so umstrittene Fracking, das 1947 in den USA zum ersten Mal eingesetzt worden war. Wegen des menschengemachten Klimawandels macht sich damals niemand Sorgen – ganz im Gegenteil: "Wie man im Winter einen Schneefall und im Sommer einen Regenguss zustande bringt, das werden im 21. Jahrhundert sogar die kleinen Kinder wissen" – und zwar mittels eines Pulvers, das von Flugzeugen aus in Wolken gestreut wird, um Wärme zu absorbieren.

Eine künstliche Sonne und zwei Stunden Schlaf

Warme Meeresströmungen werden die Geografinnen und Geografen des 21. Jahrhunderts nicht mehr nur beobachten, sondern aktiv umlenken, um aus Wüsten fruchtbares Land und aus den kalten Regionen des Nordens lebensfreundlichen Siedlungsraum zu machen. Über dem unterkühlten Moskau wiederum soll dann eine künstliche Sonne scheinen: "Vier Hochfrequenzstationen werden ihre Energie mit gewaltigen Spiegeln nach oben werfen, und die Strahlen werden sich über dem Roten Platz vierkreuzen und die Stickstoff- und Sauerstoffmoleküle zum Glühen bringen."

Eine künstliche Sonne scheint über dem Roten Platz in Moskau.
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Die Nacht zum Tag wollen die Forscher aber auch für das arbeitende Volk machen. Denn Ermüdungserscheinungen werden im 21. Jahrhundert durch chemische Substanzen und elektrische Impulse weitgehend ausgeschaltet: Zwei bis drei Stunden Schlaf genügen. Die Produktivität steigt. Ihre hinzugewonnene Freizeit wiederum verbringen die Menschen in zerlegbaren Kunststoffhäusern – wir würden wohl Tiny Houses dazu sagen –, die sie in Autos oder Flugzeuge packen und mit denen sie dorthin reisen, wohin es sie gerade verschlägt.

Eine gläserne Stadt auf dem Mond und die Angst vor dem Atomkrieg

Und manche verschlägt es sehr weit im 21. Jahrhundert, nämlich bis zu Jupiter, Saturn, Pluto und Venus. Denn der Mond hat dann den Reiz des Exotischen bereits verloren, ist zum "siebenten Kontinent" geworden, auf dem Menschen unter einer Glaskuppel leben. Um bis zu entfernten Planeten vorzudringen, reicht allerdings auch die Atomenergie nicht mehr aus. Photonenraketen mit Treibstoffen aus Antimaterie beschleunigen auf bis zu 280.000 Kilometer pro Sekunde und sollen irgendwann Reisen zu anderen Planeten ermöglichen: Doch das, so realistisch bleibt die Einschätzung, wird auch im 21. Jahrhundert noch Zukunftsmusik sein.

Ein Stadt in einem Glashaus auf dem Mond dient den Menschen als siebenter Kontinent.
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So optimistisch sich die Forscher auch zeigen, immer wieder stellen sie hinter ihre Visionen für die Zukunft ein großes Fragezeichen. Denn ob die Forschung wirklich zum Arbeiten und Verwirklichen kommt, das ist eine Frage von Krieg und Frieden: "Erstmalig in seiner Geschichte hält der Mensch ein Mittel in der Hand, mit dem er sich selber vernichten und das ganze Leben auf unserem Planeten zum Verlöschen bringen kann", sagt Astronom Kirill Stanjukowitsch ganz am Ende des Bandes. Und schließt einen Aufruf – auch an seine eigene Regierung – an: "Ich möchte die Gelegenheit nutzen, um meine Stimme zu erheben und mit denen zusammenklingen zu lassen, die eine unverzügliche Einstellung der Kernwaffenversuche und das strikte Verbot aller atomaren Waffen fordern."

Das 20. Jahrhundert verlief anders, der Ruf des Forschers blieb unerhört. Was wäre gewesen, wenn man ihn befolgt hätte? Wenn wissenschaftliches Know-how nicht im Wettrüsten verschwendet worden wäre? Hätte die Sowjetunion überlebt? Hätten ihre Forscher selbst die Erfindungen entwickelt, die sie in diesem Buch beschreiben? Am Ende bleiben auch hypothetische Fragen. Passend für ein hypothetisches Buch. (Michael Windisch, 22.2.2023)