In Popkonzerten sind Handys nicht wegzudenken, in der Hochkultur sorgen klingelnde und piepsende Geräte für Unmut. Linzer Forschende wollen das nun ändern.
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Im Theater oder in Klassikkonzerten wird meist vor Beginn der Aufführung um Ruhe gebeten. In heutiger Zeit ist das in der Regel mit dem Aufruf verbunden, sein Telefon auszuschalten. In den Inszenierungen, die Volkmar Klien künstlerisch-forschend betreut, wird dieser Wunsch absichtlich nicht geäußert: Das unter seiner Leitung am Fachbereich für Komposition und Computermusik der Anton-Bruckner-Privatuniversität in Linz entwickelte System funktioniert ohne Handys nämlich gar nicht. Die Grundlage für die künstlerisch einsetzbare Technologie, die auf den Namen "The Choir and The Sound System" getauft wurde, ist die von Lukas Bindeus entwickelte Software SADISS (Socially Aggregated Digitally Integrated Sound System).

Klien erklärt: "Das Programm bündelt die Telefone des Publikums in ein großes, vielkanaliges Lautsprechersystem oder in eine vielkanalige Durchsageinfrastruktur, mit der partizipative Ensemblestücke — seien sie musikalisch oder theatralisch — ermöglicht werden." Die einzelnen Teilnehmenden klinken sich in das performative Geschehen ein, jedes Gerät spielt dann einzelne Klänge einer Gesamtkomposition ab oder gibt Handlungsanweisungen für die Nutzerinnen und Nutzer. Was für Aufführungen sich ergeben, ist die Kernfrage des Projekts.

Smartphones im Publikum

"Mit verschiedenen Ansätzen versuchen wir, die künstlerischen Möglichkeiten, die so ein System bietet, in konzertanten und theatralischen Settings zu untersuchen." Da man heutzutage davon ausgehen kann, dass die meisten Menschen im Publikum ein Smartphone in der Tasche haben, wird die technische Infrastruktur also nicht vor Ort bestaunt, sondern von den Zuschauern selbst mitgebracht: "Die Grenze zwischen Performern und Publikum verschwindet so teilweise, weil das Aufführungen ermöglicht, auf die in der Form niemand vorbereitet ist. Dadurch ergeben sich viele Möglichkeiten, problematische Aspekte unserer Netzwerkgesellschaft künstlerisch auszuloten."

Das Publikum soll in Situationen gebracht werden, die es zum Nachdenken über die Macht vernetzter Strukturen bringen. Dabei haben sich bislang vor allem zwei grundsätzliche Ansätze herausgeschält. Zum einen werden die Telefone als Lautsprechersystem genutzt: "Aber nicht in dem Sinn, dass 500 Telefone das Gleiche streamen, sodass die Aufführung bloß lauter wird", betont Klien. Vielmehr dienen sie als einzelne Abspielgeräte von Elementen einer Partitur, die sich dynamisch an die Anzahl der Telefone anpasst und deren Bestandteile von jedem Smartphone einzeln in Klang umgesetzt werden – jedes Gerät spielt somit seine Rolle als kleiner Synthesizer.

Zum anderen werden die Telefone mit diesem System in elektronische Souffleusen und Regisseure verwandelt: Die Zuschauer können, etwa nachdem sie sich eingeklinkt haben, eine Rolle auswählen und bekommen davon ausgehend von der Software vorgegeben, was sie im Lauf der Inszenierung zu sprechen oder zu singen haben oder wie sie sich bewegen und verhalten sollen. "Wir können mit SADISS vielstimmig kommentieren, verschiedene Rollen vergeben und mithilfe von Netzwerktechnologie ein Theaterstück auf eine Gruppe aufmodulieren — natürlich nur, wenn diese Menschen mitmachen wollen und dazu ihre Erlaubnis geben. Daraus ergeben sich Spielwiesen für die Reflexion von hierarchischen Strukturen und Befehlsketten."

Teil der Aufführung

Laut Klien sei der Einsatz in klassischen Theatersituationen möglich — etwa indem man das Publikum in verschiedenen Rollen Texte nachsprechen lässt. Aber das System ist vor allem für experimentelle Aufführungssituationen gedacht, in denen das Publikum meistens nicht wie im traditionellen Theater ruhig am Sessel klebt. "Wir befinden uns natürlich in solchen Situationen immer in einer Art kontrolliertem Chaos. Es ist keine aseptische Laborsituation, sondern wir gehen auf die Leute zu, um sie zu einer aktiven Partizipation anzuregen."

Der Einsatz der Software durch andere Kunstschaffende ist explizit erwünscht: Sie ist als Open Source frei verfügbar. Laut Klien ist das Teil der Methodik: "Je mehr man künstlerisch mit so einer Software arbeitet, desto eher entstehen neue Möglichkeiten, die wiederum Adaptionen nach sich ziehen. In einem postdigitalen Musikdenken ist durchaus verankert, dass die Entwicklung der Instrumente immer auch ein Teil des künstlerischen Schaffens ist."

Und Anlässe zum Nachdenken wird es weiterhin viele geben, da die Mobiltelefonie ein extrem dynamisches Umfeld ist: Betriebssysteme und Browser werden ständig erneuert, und auch im Hardwarebereich kommt es regelmäßig zu weiteren Variationen und Kombinationen. "Allein das diktiert, dass hier die Entwicklung nicht abgeschlossen ist. Es ist einfach ein Teil des Prozesses, dass man versucht, mit den Veränderungen in mobiler Elektronik Schritt zu halten." Bei diesem Projekt lautet die Devise eben: nicht still sitzen, sondern mitmachen. (Johannes Lau, 11.3.2023)