Der US-Historiker Timothy Snyder argumentiert, warum die nukleare Drohungen Putins als Bluff zu werten sind. Dennoch würde es vermutlich nicht schaden, mehr über die Folgen eines Atomkriegs zu wissen.

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Wladimir Putins Rede an die Nation am Dienstag endete mit einer gezielten Drohung: Er erklärte, dass Russland seine Teilnahme am New-Start-Vertrag aussetzen würde. Das ist einer der wichtigsten nuklearen Abrüstungsverträge, der 2010 in Prag unterzeichnet wurde und ein Jahr später in Kraft trat. Damit droht der russische Präsident einmal mehr mit einer atomaren Eskalation. Was strategisch davon zu halten ist und warum das in erster Linie als Bluff bewertet werden sollte, hat der Yale-Historiker Timothy Snyder in einem klug argumentierenden Essay analysiert.

Dass die Wahrscheinlichkeit des Einsatzes von Atomwaffen welcher Art auch immer durch den Beginn des Angriffs auf die Ukraine nicht kleiner wurde, ist aber auch eine Tatsache, der vor einem Monat mit der Doomsday Clock Rechnung getragen wurde: Am 24. Jänner 2023 wurde die Weltuntergangsuhr, die metaphorisch und symbolisch anzeigt, wie nahe die Welt einer von Menschen verursachten globalen Katastrophe ist, auf 90 Sekunden vor Mitternacht gestellt. So kurz vor zwölf war sie noch nie, seit sie 1947 aufgestellt wurde.

Wissen über den nuklearen Winter

Wie hoch aber ist das öffentliche Bewusstsein dafür, welche langfristigen und katastrophalen Folgen der großflächige Einsatz von Atomwaffen bringt? Und wie groß ist das Wissen darüber, was bei einem "nuklearen Winter" passieren würde?

Das untersuchte eine neue, vom Centre for the Study of Existential Risks (CSER) der Universität Cambridge durchgeführte Umfrage. Die Hauptergebnisse: Zum einen ist das Wissen über die Folgen eines globalen Atomkriegs so gering wie nie zuvor seit dem Kalten Krieg. Und zum anderen sind jene Menschen, welchen Folgen bei einem nuklearen Winter drohen, um einiges zurückhaltender bei der Befürwortung eines westlichen Gegenschlags bei einem hypothetischen lokalen Einsatz von Atomwaffen in der Ukraine.

Die Online-Umfrage des CSER wurde am 25. Januar 2023 durchgeführt. 3.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer in den USA und Großbritannien wurden gebeten, ihr Wissen sie über einen nuklearen Winter einzuschätzen und ob sie darüber aus den zeitgenössischen Medien, direkt aus der Wissenschaft oder noch in den 1980er-Jahren gehört hatten. Die Ergebnisse zeigten, dass das meiste Wissen – so es überhaupt vorhanden war – auf die Zeit des Kalten Kriegs zurückgeht.

Was wirklich passieren würde

Was tatsächlich passieren würde, könnten Sie auch im STANDARD gelesen haben, wo mehrfach über neue Studien und Simulationen berichtet wurde. Im Wesentlichen drohen zwei Hauptgefahren: Jede Explosion würde einen Feuersturm auslösen und riesige Mengen an Ruß und Trümmern in die Atmosphäre schleudern, die die Sonne für Jahrzehnte blockieren würden. Die Temperaturen würden weltweit sinken, vielerorts sogar bis in den Minusbereich, was zu massiven Ernteausfällen und weit verbreiteten Hungersnöten führen würde.

Der Ruß und die Trümmer, die in die Atmosphäre geschleudert werden, werden durch die Explosion radioaktiv und wären daher für Tiere und Menschen auf der ganzen Welt gefährlich und weitgehend tödlich. Am ehesten wären noch Inselstaaten wie Australien, Neuseeland, Island, die Salomon-Inseln und Vanuatu in der Lage, Nahrungsmittel zu produzieren, um die menschliche Existenz zu sichern, wie kürzlich eine Studie im Fachblatt "Risk Analysis" ergab.

Wie auf Erstschlag reagieren?

Im zweiten Teil der Umfrage wurden den Teilnehmerinnen und Teilnehmern auch fiktive Medienberichte aus der nahen Zukunft vorgelegt, in denen Russland Atomwaffen gegen die Ukraine oder umgekehrt eingesetzt hatte. Es zeigte sich, dass in dem Fall weniger als einer von fünf Befragten sowohl in den USA als auch im Vereinigten Königreich einen nuklearen Vergeltungsschlag befürwortete, wobei Männer diese Maßnahme eher befürworteten als Frauen.

Einige der Umfrageteilnehmer sahen auch Infografiken, die die Folgen eines nuklearen Winters aufzeigten, wie er in einer im August 2022 im Fachblatt "Nature Food" veröffentlichten Studie vorhergesagt wurde, in der geschätzt wurde, dass bei einem Krieg zwischen den USA und Russland über fünf Milliarden Menschen sterben würden. Der Hälfte der Teilnehmer aus jedem untersuchten Land wurden die Infografiken gezeigt, bevor sie die fiktiven Berichte über Atomangriffe lasen, während die andere Hälfte, eine Kontrollgruppe, nur die Berichte las.

Wissen macht vorsichtiger

Die Ergebnisse zeigten, dass die Befürwortung eines nuklearen Vergeltungsschlags unter den Teilnehmern, die die Infografiken gesehen hatten, tatsächlich geringer war, nämlich 16 Prozent weniger in den USA und 13 Prozent im Vereinigten Königreich. Die Umfrage ergab auch, dass dieser Effekt bei den Anhängern der derzeitigen Regierungen beider Länder stärker ausgeprägt war, wobei die Unterstützung für einen Vergeltungsschlag bei den US-Demokraten um 36 Prozent und bei den britischen Konservativen um 33 Prozent geringer war.

Paul Ingram, der Leiter der CSER-Umfrage, war vor allem darüber erstaunt, dass die Vorstellungen eines nuklearen Winters eine nachklingende kulturelle Erinnerung aus der Zeit des Kalten Kriegs erscheint – "als ob es sich um einen Stoff der Geschichte handelt und nicht um ein schrecklich aktuelles Risiko". Natürlich sei es beunruhigend, über Katastrophen großen Ausmaßes nachzudenken, "aber bei Entscheidungen müssen alle möglichen Folgen berücksichtigt werden, um das Risiko zu minimieren". (tasch, 23.2.2022)