Bildausschnitte aus einem "definierenden Jahr" voller Gewalt und Widerstandsgeist: die Doku "Signs of War".

Foto: Pierre Crom

Juri Rechinsky steht vor einem Haus in Kiew, als er sich per Zoom zuschaltet. Es ist fast neun Uhr, Montagabend, bald beginnt die Ausgangssperre, er wartet noch auf ein Taxi, das ihn aus der Stadt bringen soll, und eine Zigarette muss auch geraucht werden. In ein paar Tagen will er in Wien sein, um seinen Film Signs of War vorzustellen: über die Bilder von Pierre Crom, einem renommierten Fotografen aus Amsterdam, der seit 2014 den russischen Krieg in der Ukraine dokumentiert. Als Rechinsky im Taxi sitzt, kann er in Ruhe sprechen, auch darüber, wie sehr ihn das vergangene Jahr mitgenommen hat.

STANDARD: Wie haben Sie den Fotografen Pierre Crom kennengelernt?

Rechinsky: Ich habe mich bei einem Filmprojekt für den Schnitt beworben. Dabei fand ich heraus, dass es um den Krieg in der Ukraine von 2014 bis 2019 ging. Um die Fotografien, die Pierre Crom damals auf der Krim und im Donbas gemacht hat. Ich sah mir das ganze Material an, erstellte eine Chronologie und sagte dann: Hinter diesen Bildern steckt eine Geschichte, ich hätte eine Idee, wie man die erzählen könnte, aber dazu müsste ich Regie machen. Die Produzenten haben mir vertraut.

STANDARD: Was ist die Geschichte?

Rechinsky: Pierre Crom hat es geschafft, mir etwas über den Krieg in der Ukraine zu zeigen, das mir vorher nicht bewusst war. Er war bei jedem entscheidenden Schritt dieses Kriegs dabei, er hat nichts versäumt, das ist extrem unwahrscheinlich, immer zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Er stand als einer der Ersten auf dem Feld in der Ostukraine, als das Flugzeug MH17 abgeschossen wurde.

STANDARD: Wie kam es, dass er 2014 auf der Krim war, als es losging?

Rechinsky: Soweit ich es verstanden habe, wollte er sein Leben ändern. Ein guter Beginn für jede Geschichte. Er war Parlamentsfotograf in Brüssel und unzufrieden mit seinem Job. Er wollte nicht mehr Politiker fotografieren, sondern das, was Politiker bewirken. Er buchte ein One-Way-Ticket auf die Krim und kam dort, zwei Tage bevor die Annexion begann, an. Danach fand er sich in einem Tsunami schrecklicher Ereignisse wieder.

STANDARD: Die Interviews mit Crom sind ein entscheidender Teil des Films. Er spricht bedächtig, sehr reflektiert. Mussten Sie dieses Sprechen proben?

Rechinsky: Wir haben nichts geprobt, ich habe nichts geändert, das käme mir nie in den Sinn.

STANDARD: Man muss einen Rhythmus finden, wenn es um so gravierende Erfahrungen geht.

Rechinsky: Manchmal habe ich Fragen mehrmals gestellt, wenn ich das Gefühl hatte, es fehlt noch etwas. Zum Beispiel: Wie ging es ihm auf diesem Feld, auf das MH17 fiel? Ich wollte verstehen, wie er sich da gefühlt hat. Ich drehe selbst seit sechs Monaten einen Film über den Krieg. Seither verstehe ich ihn plötzlich besser. Jetzt habe ich alle Antworten, ich habe sie mir selbst gegeben. Ich habe keinerlei Konflikt mit ihm, ich urteile nicht, ich habe gesehen, was er durchgemacht hat. Das Wichtigste: Er war immer noch in der Lage, Bilder zu machen. Er gewann Einsichten, die mich berührten.

STANDARD: Wie verlief das Kriegsjahr für Sie?

Rechinsky: Ich erinnere mich nicht, wer ich vor diesem Jahr war. Es ist das schrecklichste in meinem Leben. Ich bin 37 Jahre alt und hatte schlimme Jahre, mehr als die meisten Menschen. Andererseits war dieses Jahr die größte Herausforderung bisher, und ich habe das Gefühl, wir machen das ganz gut. Wir kommen zurecht mit dieser hirnzermalmenden Erfahrung eines Krieges, eines Genozids, ich weiß auch nicht, welcher Begriff passt.

STANDARD: Sie sind also optimistisch?

Rechinsky: Die Mehrheit meiner Bekannten und ich, wir tun etwas Sinnvolles nicht nur für uns selbst, wir bringen uns nicht einfach individuell in Sicherheit. Es war ein definierendes Jahr. Wir haben begriffen, wozu wir imstande sind. Der Preis für diese Erfahrung aber ist unerträglich. Jeden Tag gibt es hunderte Tote, es gibt niemanden in der Ukraine, der oder die nicht eine nahestehende Person verloren hat.

STANDARD: Worum geht es in Ihrem Film über den Krieg?

Rechinsky: Es geht um Facetten. Die wichtigste ist der Tod. Der Tod ukrainischer Soldaten im Krieg. Wir filmen die Zeit vom Tod bis zur Bestattung. Ich war bis zum vergangenen Wochenende in Slawjansk. Dort sind nicht so viele Leute, kaum Zivilisten. Nur Militärs, Ärzte, Freiwillige, viel Presse. Derzeit gibt es einen Rückgang an Verletzten und Leichen. Ich sprach mit Leuten, die sagten, 2014 war das ähnlich vor dem Moment, in dem die Kämpfe in Debalzewe und Illovaisk begannen. Da gab es davor eine Woche Stille.

STANDARD: Von Kiew wollen Sie nach Wien zur Premiere Ihres Films.

Rechinsky: Ich hoffe es, noch habe ich keine Genehmigung, das Land zu verlassen.

STANDARD: Wenn Sie zum Dienst mit der Waffe eingezogen würden, was ginge da in Ihnen vor?

Rechinsky: Wenn jemand stirbt, verspüre ich immer mächtiger ein fast tierisches Verlangen, Rache zu nehmen. Beim ersten Kriegsopfer in meinem Umfeld wollte ich mich sofort melden: Gebt mir ein Gewehr, gebt mir Granaten, ich will ganz vorn rein. Ich wollte für den Vater eines achtjährigen Mädchens Rache nehmen. Er wollte keinen Krieg, aber er akzeptierte, dass er dieses Land verteidigen musste. Er hat das acht, neun Monate sehr erfolgreich getan, dann wurde er getötet. Das bricht einem das Herz.

STANDARD: Wie standen Sie zu ihm?

Rechinsky: Er war in der Filmbranche, ein sehr begabter Cutter. Er hatte ein großartiges Leben und starb durch Artillerie. Am Anfang verloren wir alle drei Monate einen nahen Menschen, jetzt sind es jeden Monat zwei. Jeder dieser Verluste macht deine Welt kleiner. Einsamer. Die Freude verschwindet. Also ich weiß es nicht. Ich habe einen Sohn in Wien, er ist sieben, er braucht mich, ich möchte ihn aufwachsen sehen. Wenn mir jetzt einer sagt, ich muss zur Armee, dann … Ich weiß es nicht. Vielleicht kann ich mit einem Film etwas bewirken. Vielleicht bin ich damit nützlicher. (Bert Rebhandl, 24.2.2023)