"Milo Dors (li.) und Reinhard Federmanns Sympathie galt den Verlierern, den Scheiternden. Sie allein bezeugen, dass die Geschichte einen anderen Verlauf hätte nehmen können, nehmen könnte": Karl Markus Gauß.

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Milo Dor hat einmal mit Witz und Wut beklagt, der einzige österreichische Schriftsteller zu sein, nach dessen Vornamen in Kreuzworträtseln gefragt werde, während seine Romane nach jeder Neuauflage doch wieder rasch vergessen würden. Daran hat sich bis heute nichts geändert, der "Patriot der Wiener Josefstadt", der am 7. März vor hundert Jahren in Belgrad geboren wurde, ist immer noch ein bekannter Name und ein Romancier, dessen Werk es noch zu entdecken gilt. Der Zufall will es, dass sein Freund und Weggefährte Reinhard Federmann nur kurz vor ihm zur Welt kam, am 12. Februar 1923, und daher in diesen Wochen des 100. Geburtstages zweier Autoren zu gedenken ist, die in den Fünfzigerjahren, um zu Geld zu kommen, übrigens eine Reihe von schnell hingeschriebenen Kriminalromanen gemeinsam verfertigt haben.

Vor allem aber teilen sie das Schicksal, dass sie mit ihren besten Werken eine kritisch-realistische Literatur verfassten, die es den offiziösen Legenden der österreichischen Literatur zufolge gar nicht gegeben hat: Dors Roman Tote auf Urlaub von 1952 und Reinhard Federmanns Himmelreich der Lügner von 1959 setzen sich auf künstlerisch ambitionierte und politisch unversöhnte Weise mit der jüngsten Vergangenheit, mit dem Austrofaschismus und Nationalsozialismus, mit Folter, Vertreibung, Holocaust auseinander. Und sie attackieren das große Vergessen, das in den Jahren des Wiederaufbaus zur gemeinsamen Staatsdoktrin der politischen Gegner von gestern wurde und das Schweigen über so viele Verbrechen, über Verstrickung und Verleugnung einschloss.

Roman des Widerstands

Zäh hält sich das Klischee, dass erst die experimentelle Literatur um die Wiener Gruppe – deren Rang unbestritten ist – mit der autoritären Vergangenheit brach und der nationalen Verdrängung ihre radikale Kritik entgegensetzte. Diese Sicht auf die österreichische Literatur ist jedoch selbst das Ergebnis einer Verdrängung. Sie negiert Autoren und Autorinnen wie Otto Basil, Gerhard Fritsch, Marlen Haushofer, Franz Kain, Friederike Manner, Hertha Kräftner, Alexander Sacher-Masoch, George Saiko, Susanne Wantoch und zahlreiche andere, von den ins Exil gejagten und nie heimgekehrten, nie zur Rückkehr aufgeforderten Schriftstellerinnen und Schriftstellern erst gar nicht zu reden.

Milo Dor war als Mitglied einer Widerstandsgruppe in Belgrad von der Gestapo verhaftet, gefoltert und zur Zwangsarbeit nach Wien verfrachtet worden. Er blieb in der Stadt, in die er nicht aus freien Stücken gekommen war und zu der er doch eine Liebe entwickelte, von der er einmal sagte, sie sei "wie eine Krankheit". Sein erster, bereits auf Deutsch verfasster Roman, Tote auf Urlaub, müsste, wenn es mit dem literarischen Kanon seine Ordnung hätte, als der große Roman des Widerstands gelten. Aber selbst die Neuauflage im Otto-Müller-Verlag hat ihm 1992 nicht jene Leserschaft und Würdigung eingetragen, die ihm gebührten.

Milo Dor, "Tote auf Urlaub". Roman. € 29,– / 483 Seiten. Otto Müller, Salzburg 1992.
Foto: Verlag

Vergessenes Schlüsselwerk

Dass dieser in die Folterstätten des Nationalsozialismus hinabtauchende Roman in den Jahren des Wiederaufbaus nicht entsprechend gewürdigt wurde, mag nachträglich nicht verwundern. Aber dass er auch von der nachfolgenden Generation nicht als Schlüsselwerk entdeckt wurde, zeugt schlichtweg davon, dass sie, die mit der Kritik ihrer im Niederreißen und Wiederaufbauen so tüchtigen Väter antrat, deren Talent zur Vergesslichkeit geerbt hatte. So weit ich es übersehe, war es von den um 1968 angetretenen Autoren einzig Michael Scharang, der Milo Dors antifaschistischen Roman gewürdigt hat.

Um zu Zeiten, in denen von einer sozialen Absicherung der Schriftsteller noch keine Rede war, als freier Autor überleben zu können, hat Dor unerhört viel publiziert, Romane, Erzählungen, Essays, Hörspiele, Drehbücher, Sachbücher, Übersetzungen, Anthologien, und so wie bei Federmann war auch bei ihm manche schnell verderbliche Alltagsware dabei. Tote auf Urlaub hat er später freilich mit zwei bedeutenden Romanen zu einer Trilogie erweitert, der er den Obertitel Die Raikow-Saga gab. Im zuerst erschienenen Mittelteil Tote auf Urlaub geht es um den Belgrader Gymnasiasten Mladen Raikow, der in die Fänge der Gestapo gerät und in der Haft von seinen kommunistischen Genossen verraten wird. In den anderen Bänden erzählt Dor die Vorgeschichte und die weitere Entwicklung des Geschehens, wobei er jeden der drei Teile stilistisch und formal auf ganz andere Weise gestaltet hat.

Überlebender auf Abruf

Tote auf Urlaub verstößt in der protokollartigen Anhäufung von Szenen des Gräuels nicht nur gegen erzählerische Konventionen, sondern auch gegen echte Schmerzgrenzen der Leserschaft. Demgegenüber entfaltet Nichts als Erinnerung (1959) die Vorgeschichte in einem breiten Gemälde, das drei Generationen der pannonischen Familie Raikow nebeneinanderstellt und in ihren Porträts die Signaturen einer Epoche im Umbruch aufdeckt. Eingebettet in jene "Landschaft feuriger Melancholie", die Dor als die seine erkennt, bringt der Roman es zuwege, die Alte Welt sowohl in ihrer Schönheit und Würde als auch in der Unausweichlichkeit ihres Untergangs zu zeigen.

Das abschließende Stück der Trilogie, Die weiße Stadt (1969), führt in die Ära des beginnenden Wohlstands herauf. Der Faschismus ist besiegt, doch besiegt sind auch jene, die mit ihren Idealen und ihrem Leben für den Kampf gegen ihn einstanden. Alles andere als ein Sieger ist Mladen, der Folter und Zwangsarbeit überlebte und nun heimatlos durch die Prosperität des Nachkriegs irrt. Was bleibt dem Belgrader Jüngling von einst, was bleibt dem jetzt Vierzigjährigen zu tun, der kein Toter auf Urlaub mehr ist, sondern ein Überlebender auf Abruf?

Über den "österreichischen" Faschismus

Reinhard Federmann, Autor von Das Himmelreich der Lügner.

Reinhard Federmann hat fünf Romane verfasst, Das Himmelreich der Lügner ist nun mit einem exzellenten Nachwort von Günther Stocker neu aufgelegt worden. Der Roman spielt in den Jahren von 1933 bis 1956. 1933 geht die Regierung Dollfuß planmäßig daran, die Demokratie in Österreich zu beseitigen, die organisierte Arbeiterbewegung zu zerschlagen und einen Faschismus spezifisch österreichischer Prägung zu errichten. 1956 wiederum wird in Ungarn der Aufstand gegen das kommunistische, Moskau ergebene Regime blutig niedergeschlagen.

Federmanns Roman prangert nicht allein den "deutschen" Nationalsozialismus an, was in der österreichischen Literatur öfter geschah, sondern auch den "österreichischen" Faschismus des Ständestaates, der kaum je thematisiert wurde. Das Himmelreich der Lügner ist ein Versuch über Politik und Macht, über die Verbrechen des Faschismus, die blutig zerstörte Hoffnung des Kommunismus, über den Kalten Krieg und die Besatzungszeit, und dabei überschneidet der Autor souverän das persönliche Schicksal seiner Protagonisten mit den historischen Ereignissen.

Ein Fremder in der Heimat

Bruno Schindler, der desillusionierte Ich-Erzähler, ist immer wieder besiegt worden – jetzt, Ende der Fünfzigerjahre, will er rückblickend Rechenschaft ablegen. Er vergegenwärtigt sich, wie die Erste Republik zerstört wurde, er erinnert sich an seinen später ermordeten jüdischen Freund, der bereits 1933 von Nationalsozialisten zusammengeschlagen wurde und vor dem österreichischen Gericht keine Chance hatte, Gerechtigkeit zu erlangen. Im Februar 1934 wollte Schindler die Demokratie verteidigen, mit der Pistole in der Hand irrte er durch Wien und musste erkennen, dass der Aufstand von den sozialdemokratischen Führern viel zu lange hinausgezögert wurde und jetzt keinen Erfolg mehr haben wird. Es gelingt ihm, in die Tschechoslowakei zu flüchten, und von dort macht er sich auf in die Sowjetunion. Er wird Kommunist, an die Front geschickt, kehrt 1945 mit der Roten Armee in seine Heimatstadt zurück. Und fühlt sich nicht als Sieger. Denn er findet ein Land vor, in dem keiner schuld sein und jeder seine Ruhe haben will. Der Bevölkerung als "Russenknecht" verhasst, den Genossen als unzuverlässiger Individualist verdächtig, beobachtet er genau, wie sich in seiner Heimat die Täter von gestern als Opfer aufspielen und im Reich Stalins der Terror herrscht.

Reinhard Federmann, "Das Himmelreich der Lügner". Roman. Mit einem Nachwort von Günther Stocker. € 30,– / 528 Seiten. Picus, Wien 2023.
Foto: Verlag

Fremder in der Heimat

Er bricht neuerlich auf, geht als Journalist in die Welt und kehrt erst 1956 zurück. Was hat Schindler in dieser Stadt zu suchen, in dem ein Genosse von früher, der zu den Nazi übergelaufen war, nun als Geschäftsmann große Karriere macht? In der weinselig die Kontrahenten von gestern auf die gute neue Zeit anstoßen? Während ringsum alle ihre Vorbereitungen für den Weihnachtsabend 1959 treffen, erkennt Schindler, dass er in seiner Heimat ein Fremder ist. Dors und Federmanns Sympathie galt den Verlierern, den Scheiternden. Sie allein bezeugen, dass die Geschichte einen anderen Verlauf hätte nehmen können, nehmen könnte.

Nicht zu Unrecht haben sich Milo Dor und der 1976 mit nur 53 Jahren verstorbene Reinhard Federmann selbst als Verlierer und Gescheiterte gefühlt. Immer wieder begegne ich Experten der österreichischen Literatur, die kein Buch von Milo Dor gelesen haben, sich aber sicher sind, dass er ein allzu traditioneller Erzähler gewesen wäre. Immer wieder bekommen wir zu hören, dass es in Österreich keine Literatur des Kahlschlags wie in der BRD gegeben habe, dabei hat Reinhard Federmann mit Chronik einer Nacht 1950 ein überzeugendes Beispiel dieses Genres veröffentlicht. Die Aufsichtsbeamten des literarischen Betriebs haben jahrelang eine Literatur totgeschwiegen, deren Fehlen sie notorisch bedauern. (Karl-Markus Gauß, 24.2.2023)