Zu Ostern will Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) einen großen Versöhnungsprozess starten. Wie der aussehen soll, wird im Kanzleramt noch beraten, mit Details gibt man sich sparsam. Wohl auch deshalb, weil die Ankündigung ins Blaue gemacht wurde, ohne dass konkrete Pläne vorlagen. Angestrebt wird unter anderem eine Kommission, die die Corona-Entscheidungen der Regierung während der Pandemie aufarbeiten soll. Ob sich allerdings ausreichend Experten finden, die dieser Kommission auch eine Legitimation geben, ist fraglich.

Die Schuldzuschreibung an die Experten, die der Kanzler vorgenommen hat, hat bei diesen nicht unbedingt die Bereitschaft erhöht, der Politik als willfährige Handlanger zuzuarbeiten. Im Nachhinein versucht der Kanzler seine Aussage über die Expertenhörigkeit der Regierung zurechtzurücken, er habe damit lediglich ausdrücken wollen, dass man nicht ins Blaue hinein entschieden, sondern sich beraten habe.

Bundeskanzler Karl Nehammer hofft, die Spaltung der Gesellschaft in Sachen Corona überwinden zu können.
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Die für 10. März geplante Kanzlerrede und die noch zu findende Kommission sollen jedenfalls nur ein Teil des geplanten Prozesses sein, den Nehammer anstrebt, um eine Aussöhnung in der Gesellschaft zu erreichen. Mutmaßlich geht es nicht nur um eine Aussöhnung, sondern vordringlich darum, eine Rückholaktion der Wähler von der FPÖ zu starten. Der Zusammenhang zwischen Impfskepsis und Bereitschaft, die FPÖ zu wählen, ist der ÖVP spätestens bei der niederösterreichischen Landtagswahl aufgefallen.

Tatsächlich hat das Thema Corona-Impfung immer noch die größte Spaltkraft in der österreichischen Gesellschaft: Zwei Drittel sehen eine Kluft zwischen Geimpften und Nichtgeimpften. Das ist immerhin ein deutlicher Rückgang seit dem Dezember 2021: Damals, als die Impfpflicht heftig diskutiert wurde, haben in einer Vergleichsumfrage des Linzer Market-Instituts für den STANDARD sogar 90 Prozent eine Spaltung entlang dieses Themas ausgemacht.

Jetzt sind es immer noch 66 Prozent – gefolgt von 57 Prozent, die die Bevölkerung in einen Teil mit und einen anderen ohne Migrationshintergrund geteilt sehen. An dritter Stelle stehen jene 55 Prozent, die eine Spaltung zwischen jenen Menschen wahrnehmen, die den Klimawandel ernst nehmen, und jenen, die das nicht tun.

Neue gesellschaftliche Gräben

"Insgesamt hat das Gefühl der Spaltung in der österreichischen Gesellschaft andere Themen gefunden. Der Klimawandel ist wieder stärker ins Bewusstsein gerückt. Zunehmend sehen die Befragten aber auch eine Spaltung zwischen Menschen mit hohem und solchen mit geringem Einkommen, mit und ohne Finanzvermögen sowie mit und ohne Immobilienbesitz. Das ist vor allem die Sicht von Wählern der SPÖ und teilweise der Freiheitlichen. Während ÖVP-Wähler, aber eben auch Freiheitliche in hohem Maße eine Bruchlinie zwischen fleißig und faul verorten", sagt Market-Meinungsforscherin Martina Sturmair.

Zwar sagen immer noch 38 Prozent, die Gesellschaft sei stark gespalten, und weitere 52 Prozent, sie sei etwas gespalten – dennoch ist der Grad der wahrgenommenen Spaltung heute geringer als vor 14 Monaten. Und Corona spaltet eben nicht mehr so wie damals.

Tatsächlich belegen die Zahlen einer in dieser Woche durchgeführten Umfrage im Auftrag des STANDARD, dass die Menschen in Österreich die Corona-Pandemie im Wesentlichen für überwunden halten. 62 Prozent schließen sich dieser Sichtweise an – da gibt es kaum Unterschiede zwischen den einzelnen Bevölkerungs- und Wählergruppen. Wohl aber ist da ein markanter Unterschied zum Frühjahr des vergangenen Jahres: Damals sagten nur 19 Prozent, dass die Pandemie überwunden sei, 68 Prozent rechneten mit weiteren Einschränkungen.

Heute rechnen nur noch 23 Prozent mit einer neuen Corona-Welle, die zu Einschränkungen führt.

Pandemie als Privatsache

Und mehr als je zuvor herrscht die Meinung vor, dass "die Abwehr der Pandemie jetzt Privatsache sein sollte, weil sich jeder eigenverantwortlich schützen kann". Dieser Aussage folgen 66 Prozent. 25 Prozent – darunter auffallend viele Wähler von ÖVP, SPÖ und Grünen – wünschen sich weiterhin staatliche Regeln und Beschränkungen. Im August 2021 (also Monate vor Beginn der Diskussion um eine Impfpflicht) war das Verhältnis praktisch umgekehrt, 61 Prozent wünschten damals ein weiteres staatliches Pandemiemanagement.

Gleichzeitig hat die Idee, Geimpften und Genesenen Vorteile zu gewähren, an Zustimmung eingebüßt: Wollten vor eineinhalb Jahren drei Viertel die Geimpften und Genesenen bevorzugen, so stimmt dem jetzt nur noch etwas mehr als die Hälfte der Befragten zu.

"Auch hier ist dasselbe Muster zu erkennen: Die Leute, die uns sagen, dass sie ÖVP, SPÖ oder Grüne wählen würden, sind mit der de facto durchgeführten Bevorzugung derer, die einen Green Pass hatten, mit großer Mehrheit zufrieden. Von den freiheitlichen Wählern sagen 57 Prozent, eine solche Bevorzugung solle es nicht geben. Die wenigen verbliebenen Anhänger der MFG sehen das genau so", fasst Sturmair zusammen.

Selbstkritik nicht erwartet

Das also ist die Stimmungslage zum Zeitpunkt, als Bundeskanzler Nehammer beschlossen hat, die Thematik "nicht den Radikalen" zu überlassen und ein "Aufeinanderzugehen" einzuleiten: "Corona war für unsere Gesellschaft eine Art Trauma, das wir nun gemeinsam aufarbeiten sollten", sagte der Kanzler in der Vorwoche.

Was davon zu erwarten ist?

DER STANDARD ließ den 800 repräsentativ ausgewählten Wahlberechtigten, die diese Woche von Market befragt wurden, eine Reihe von möglichen Folgerungen aus Nehammers Projekt vorlegen. Die Fragestellung lautete: "Bundeskanzler Karl Nehammer hat ja angekündigt, dass man nun überprüfen sollte, was bei der Corona-Pandemie-Bekämpfung gut gelaufen ist und was da falsch gewesen ist. Was meinen Sie, was wird da herauskommen?"

  • Man könnte vielleicht erwarten, den Impfgegnern werde letztlich recht gegeben – aber das meint selbst bei den Freiheitlichen nur ein Viertel, insgesamt stimmen dieser Meinung gerade einmal 15 Prozent aller Wahlberechtigten zu. 74 Prozent halten das für eher nicht wahrscheinlich, die restlichen elf Prozent wagen das nicht zu beurteilen.
  • Als nicht viel wahrscheinlicher gilt, dass Experten zugeben werden, dass sie zu scharfe Maßnahmen gefordert hätten. Daran glauben nur 21 Prozent – etwas mehr sind es in den Wählerschaften von ÖVP und SPÖ.
  • Im Gegenteil. Von den Experten wird erwartet, dass sie zu Protokoll geben, dass die Regierung viel falsch gemacht hat. Derartige Regierungskritik erwarten sich vor allem die Anhängerinnen und Anhänger von SPÖ und Neos von Nehammers Aufarbeitung der Corona-Maßnahmen.
  • Dass gar die Regierung zugeben könnte, zu scharfe Maßnahmen gesetzt zu haben, glauben nur 23 Prozent. Zwei Drittel der Befragten halten das für eher unwahrscheinlich – wobei die Freiheitlichen am ehesten an einem solchen Eingeständnis der Regierung zweifeln, die ÖVP-Wählerinnen und -Wähler am wenigsten.
  • Auch hier ergibt die entgegengesetzte Aussage die Bestätigung. 65 Prozent erwarten: "Die Regierung wird sagen, ohnehin alles richtig gemacht zu haben." Je älter die Befragten sind, desto eher zweifeln sie an der möglichen Selbstkritik der Regierung.
  • Immerhin 40 Prozent erwarten eine offizielle Feststellung, dass Grundrechte zu stark eingeschränkt wurden. In diesem Punkt sind die Wählerschaften von Grünen und FPÖ sowie die wenigen erklärten Anhänger der Bierpartei besonders zuversichtlich – andererseits sagt die Hälfte der Befragten, dass sie das eben nicht erwarten.
  • Schadet Nehammers Plan also dem Ziel der Versöhnung – wird man mehr streiten? Nicht unbedingt. 35 Prozent erwarten das, 47 glauben nicht daran. Jene, die die Gesellschaft insgesamt für stark gespalten halten, glauben allerdings mehrheitlich, dass die Spaltung noch vertieft wird.
  • Und sonst? Drei Viertel halten für wahrscheinlich: "Am Ende wird gar nichts Vernünftiges herauskommen."

(Conrad Seidl, Michael Völker, 26.2.2023)