Im Gastblog schreibt der Historiker Paulus Adelsgruber über eine ukrainische Familiengeschichte und zeigt, wie diese seit Generationen vom Zarenreich bis Putin-Russland geprägt wurde.

Seit dem ersten Blogeintrag ist viel Wasser den Dnister hinuntergeflossen. Mehr als ein Jahr ist verflogen, seit uns die Nachricht über den russischen Angriff in Chişinău aus dem Schlaf gerissen hat. Millionen von Ukrainern und Ukrainerinnen mussten ihre Heimatorte verlassen, bis zu 100.000 sind bis heute im kleinen Nachbarland Moldau geblieben. Die Sirenen aus der ukrainischen Region Winnyzja sind beispielsweise im moldauischen Grenzort Otaci am rechten Ufer des Dnister gut zu hören.

Brücke über den Dnister zwischen dem moldauischen Otaci und dem ukrainischen Mohyliw-Podilskyj, Region Winnyzja, Oktober 2022.
Foto: Paulus Adelsgruber

Mittlerweile ist das in der westlichen Ukraine zur Gewohnheit geworden – und man geht seiner Wege so gut wie möglich weiter. Doch die Wirtschaft und das Ausbildungssystem liegen am Boden: Schulen, die über keine Bunker verfügen, mussten den Betrieb einstellen, und die Stromausfälle machen den Online-Unterricht zu einer Sisyphos-Aufgabe.

Auf halbgepackten Koffern sitzend

Anfang März 2022 spreche ich in Chişinău, der Hauptstadt Moldaus, mit meiner moldauischen Universitätskollegin Rodica. Die Historikerin hat einen recht direkten Einblick in die politische Lage in ihrem Land. Ich habe sie noch nie so niedergeschlagen gesehen, sie befürchtet das Schlimmste für ihr Land. Sie sitzt mit ihrem Mann auf halbgepackten Koffern, die Kinder sind seit Jahren in Deutschland. Weiß sie mehr als ich? Das diplomatische Corps gibt nach außen noch keine Signale, ein weiteres Vorrücken russischer Truppen Richtung Odessa sei vorläufig nicht zu befürchten.

Eine andere Bekannte, Deutschlehrerin Tatjana, sieht es noch dramatischer und hält eine Atombombe auf Warschau, den historischen Konkurrenten Moskaus, für möglich. In Chişinău werden Flüchtlinge von Privatinitiativen und NGOs versorgt, so wird etwa das Steakrestaurant Smokehouse kurzerhand in ein Verteilerzentrum für Lebensmittel und Hygieneprodukte umfunktioniert.

Smokehouse, Flüchtlingshilfe in Chişinău, März 2022.
Foto: Paulus Adelsgruber

Die Ende Februar aus Odessa zu mir geflüchtete Familie hat sich mittlerweile halbwegs in Chişinău eingelebt. Das sind Tamara mit ihren beiden Kindern und die Eltern Alik und Lena – anders als im ersten Beitrag jetzt mit ihren richtigen Vornamen. Vater Alik ist Arbeit gewohnt, er kann nicht lange ruhig sitzen. In der Wohnung in Odessa warten schon die ausgetriebenen Kartoffeln darauf, auf der "Datscha", der postsowjetischen Version des Schrebergartens, eingesetzt zu werden. In der Zwischenzeit kultiviert er am Chişinăuer Fensterbrett Setzzwiebeln, wir haben ab sofort immer Zwiebelgrün.

Frühling am Fensterbrett in Chişinău, April 2022.
Foto: Paulus Adelsgruber

Und regelmäßig macht er sich mit seinem alten Leinenrucksack und leeren Kanistern zur Quelle in die weitläufige Chişinăuer Parkanlage Valea Morilor auf. Die Quelle liegt am oberen Ende des bewaldeten Hügelzugs, zwischen einer rustikalen Trainingsanlage für Bodybuilding und einem Grillplatz. Einige Meter höher, und man steht vor den hoch aufragenden Nobelvillen des Sonnenhangs. Alik wird der Erste der Familie sein, der in die Ukraine zurückkehrt: Anfang April macht er sich in seinen Geburtsort auf, wo er sich wie jedes Frühjahr um den Gemüsegarten kümmert und im legendären Sbrutsch fischt. Erst wenn die ersten Nachtfröste nahen, kehrt er nach Odessa zurück.

Alik bei der Rückreise in die Ukraine, Gară de Nord Chişinău, April 2022.
Foto: Paulus Adelsgruber

Alik ist 75 und war Gießer in der Odessiter "Fabrik der Oktoberrevolution" (ZOR), dem größten Kombinat dieser Art in der Sowjetunion. Er goss alles, von kunstvollen Möbelbeschlägen bis zu Flugzeugteilen. Arbeiter wie er durften mit 50 Jahren in Pension gehen, die Belastung durch giftige Dämpfe war hoch. Er arbeitete bis 72 weiter, es machte ihm Spaß – erst Parkinson setzte dem ein Ende, auch mit dem Bajan- und Trompete-Spielen war es vorbei.

Erfahrungen vorheriger Generationen

Wie seine Frau Lena stammt er ursprünglich aus Ivankivci (bei Sataniv), einem westukrainischen Dorf unweit des besagten Sbrutsch, der die beiden Regionen Chmelnyzkyj und Ternopil trennt. Von der zweiten Teilung Polens 1793 bis zum Ende des Ersten Weltkriegs standen sich hier österreichische und zaristische Grenzsoldaten gegenüber. Reisebeschreibungen aus dieser Zeit weisen darauf hin, dass diese Staatsgrenze bald zu einer mentalen Wegscheide zwischen Ost und West wurde, zumindest im Kopf der Autoren. Auch Honoré de Balzac hinterließ hier literarische Spuren, die von einer oberflächlichen Furcht vor dem unbekannten Russland zeugen. Im westlichen Galizien waren die meisten Ukrainer griechisch-katholisch und somit dem Papst unterstellt, im Zarenreich hingegen russisch-orthodox. Während sich in Galizien ein ukrainisches Schrifttum und Geistesleben entwickeln konnte, wurde das im Zarenreich mit Russifizierungsmaßnahmen abgewehrt. Die Region war multiethnisch: Die Kleinstädte und Städte überwiegend jüdisch und polnisch, die Dörfer von Ukrainern dominiert, die von den Behörden westlich des Sbrutsch "Ruthenen" und östlich davon "Kleinrussen" genannt wurden.

Aliks Vater, Jahrgang 1918, versteckte sich in den ersten Jahren des Zweiten Weltkriegs mit seiner Frau im Wald, nach dem Abzug der Deutschen wurde er 1944 zur Roten Armee eingezogen und kam fast bis Berlin. Nach dem Krieg war er Musiklehrer und leitete das Kulturhaus. Aliks Großvater wiederum versteckte ab 1941 am Heuboden einen jüdischen Jungen, dieser überlebte und kam Jahre später noch einmal ins Haus, um sich zu bedanken. Neben den Deutschen war auch die lokale Hilfspolizei an Verbrechen beteiligt, "oft Leute, die mit dem Sowjetregime eine Rechnung offen hatten", andere seien, so Alik, einfach von der Straße weg von den Deutschen rekrutiert worden. Im nahen Wald wurden jüdische Personen erschossen, auch daran erinnert man sich.

Lenas Vater wiederum, ehemaliger Seemann in der Schwarzmeerflotte und ein kräftiger Kerl, meldete sich 1941 anstelle einer Verwandten bei den NS-Behörden als "Ostarbeiter". Er hatte Glück, kam auf ein Gehöft in Norddeutschland, und es ging ihm so gut, dass er seine Frau nachkommen lassen wollte. Nach Kriegsende konnte er unbehelligt in die UdSSR zurückkehren. Sein Bruder hatte diesbezüglich weniger Glück: Als Rotarmist kam er bereits im Winterkrieg von 1939 in finnische Gefangenschaft. Nach der Befreiung wurde er nach Sibirien deportiert und arbeitete zehn Jahre lang beim Eisenbahnbau. In der Logik Stalins gab es keine Gefangenen, die keine Verräter waren.

Lena in Chişinău, April 2022.
Foto: Paulus Adelsgruber

Grund für Abneigung gegenüber Moskau gab es schon in den Jahrzehnten davor genug: Die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft führte in den frühen 1930er-Jahren zu einer Hungerkatastrophe, von der die Ukraine besonders betroffen war. Im unmittelbaren Grenzgebiet zu Polen war man jedoch privilegiert, hier hielten sich die Sowjetbehörden aus propagandistischen Gründen mit der Konfiszierung des Getreides zurück. Lena und Alik kennen noch Schmugglergeschichten aus der Zwischenkriegszeit. Ivankivci war damals ein sowjetisches Grenzdorf. So wurde Lenas Großmutter nach dem illegalen Verkauf von Gold in Polen in die Region Moskau deportiert, wo sie zuerst in einem Steinbruch und dann als Köchin arbeiten musste.

Frage der Sprache

Alik und Lena sprechen miteinander Ukrainisch, mit den in Odessa sozialisierten Kindern und Enkelkindern wechselt man zwischen den Sprachen, wie es gerade passt. Erste Sprache Tamaras ist aber Russisch. Ihre sechszehnjährige Tochter hat sich dem Trend zum Ukrainischen angeschlossen, allein ihre Umgebung bremst sie noch ein wenig. Sie war glücklich, als das Denkmal für Zarin Katharina die Große am Kopfende der Potemkin'schen Treppe geschleift wurde. Spuren des einstigen imperialen Zentrums sollen so gut es geht aus dem Stadtbild verschwinden. Auch der russische Feldherr Suworow ist von seinem Sockel verschwunden, und die Gedenksäule für Alexander II. im Schewtschenko-Park wird folgen. (Paulus Adelsgruber, 28.2.2023)

Sockel des Denkmals für Zarin Katharina II., Odessa, Februar 2023.
Foto: Paulus Adelsgruber