Ja, die utopische Welt von "Atomic Heart" beginnt bald zu zerbröckeln – dennoch wird hier die Überlegenheit eines Volkes demonstriert, das sich in der Realität seit einem Jahr im Krieg befindet.

Foto: Mundfish

Das Gamingjahr 2023 hat turbulent begonnen – und das ist noch euphemistisch ausgedrückt, denn gleich mehrmals standen die Werkschaffenden mehr im Mittelpunkt hitziger Diskussionen als die Werke selbst. So etwa im Fall von "Hogwarts Legacy", an dessen Erschaffung "Harry Potter"-Autorin J. K. Rowling zwar nicht aktiv beteiligt war, sehr wohl aber finanziell mitschneidet. Dies führte zu Boykottaufrufen, da Rowling zuvor Aussagen getätigt hatte, die von manchen Menschen als transfeindlich angesehen wurden.

"Atomic Heart" als politisches Minenfeld

Dann kam "Atomic Heart" – und die Rowling-Kontroversen waren Schnee von gestern. Entwickelt von einem von Russen gegründeten Studio, finden sich etliche Vorwürfe gegen dieses Projekt: So hieß es zunächst, dass über das Game Spielerdaten an russische Behörden – darunter den Geheimdienst FSB – weitergegeben werden. Das wurde vom Studio noch dementiert.

Andere Fragen bleiben unbeantwortet, und dazu zählt auch jene, ob Spielerinnen und Spieler mit dem Kauf von "Atomic Heart" das russische Militär finanzieren. Dieser Verdacht drängt sich angesichts der Investorenstruktur nämlich auf. Der Developer hat diese Strukturen weder offen dargelegt, noch hat er sich zum Ukrainekrieg öffentlich geäußert.

Und dann ist da noch der Inhalt des Spiels, in dem in einer alternativen Realität eine utopische Version des UdSSR skizziert wird. Um an dieser Stelle eine oft geäußerte Kritik aus dem Forum aufzugreifen: Ja, wir sind uns durchaus bewusst, dass die UdSSR nicht mit dem heutigen Russland ident ist. Das ändert aber nichts daran, dass in "Atomic Heart" die Überlegenheit eines Volkes dargestellt wird, das sich seit einem Jahr in einem Krieg mit einem Land befindet. Und dieses andere Land hat vor wenigen Tagen zum Boykott des Blockbusters aufgerufen.

Transparenz statt Verbot

Hinweise auf diese Umstände äußerten sich bei vielen Gamerinnen und Gamern in einer Trotzreaktion. "Bald kann man nichts mehr kaufen oder genießen", hieß es da, mit anderen Worten: Ich will doch nur zocken, der Rest interessiert mich nicht.

Dabei geht es in derartigen, auch von der Redaktion des STANDARD geführten Diskussionen gar nicht darum, etwas zu verbieten. Sondern darum, zu informieren und mündigen erwachsenen Menschen dadurch eine Entscheidungsgrundlage zu bieten.

Im Mainstream angekommen

Die jüngsten Fälle stechen dabei besonders heraus, in Wahrheit ist eine kritische Betrachtung aber bei zahlreichen Werken angebracht: Hat es in dem Studio meines Lieblingsspiels Mobbing und sexistische Übergriffe gegeben? Wie viele Mitarbeiter beklagten sich über Überlastung und unwürdige Arbeitsbedingungen? Verdienen die Publisher ihr Geld über manipulative Glücksspielmechanismen? Wie historisch akkurat sind die Darstellungen von Kriegen und absolutistischen Regimen, auch in westlichen Spielen? Und wie gehe ich schließlich mit alldem um?

Das alles sind Fragen, die wir uns stellen und jeweils für uns selbst beantworten müssen. Gaming ist keine Nische mehr. Es ist schon längst das umsatzstärkste Segment im gesamten Entertainmentbusiness. Und damit geht einher, dass wir allesamt genauer hinsehen müssen, womit wir es zu tun haben. Die professionellen Kritiker, die Gamer – und in manchen Fällen auch die Politik, wenn es etwa um verstecktes Glücksspiel geht.

Entscheidung und Information

Sie wollen also auch weiterhin in "Atomic Heart" auf Roboter ballern? Bleibt Ihnen unbenommen. Unsere Aufgabe ist es, Ihnen die diskussionswürdigen Aspekte des Spiels zu erklären.

Wir liefern somit weiterhin transparent nicht nur Informationen zu den Werken per se, sondern auch zur jeweiligen Entstehungsgeschichte, wenn sie von Relevanz ist. Weil nur ein informierter Mensch auch informierte Entscheidungen treffen kann. Und diese Entscheidungen sind in Zeiten wie diesen so wichtig wie lange nicht mehr. (Stefan Mey, 26.2.2023)