Siegfried Meryn blickt zur Decke des von Tageslicht erhellten Foyers und spricht über Baukosten und Quadratmeterpreise, als er sich plötzlich selbst unterbricht und "Hallo!" sagt. Ein Mann hat sich leise bis auf wenige Meter genähert, grüßt zaghaft zurück und bittet um ein Autogramm, "für meine Mutter". Der Mann in dem khakibraunen Parka kramt aus seinem Rucksack eine Postkarte hervor. Der Arzt in schwarzem Sakko und weißem Hemd mit Manschettenknöpfen borgt sich einen Kugelschreiber aus und schreibt ein paar Zeilen.

"Fuck 2022" steht auf der Bildseite der Postkarte. Eine Widmung "für Lizi" nun auf der anderen Seite. In gut eineinhalb Stunden wird der 68-jährige Meryn in ein Fernsehstudio fahren, um dort das zu tun, wofür die Nation ihn seit langem kennt: vor der Kamera Gesundheitsthemen erörtern, etwa in Bewusst gesund auf ORF 2 oder in zwei eigenen Sendungen auf ORF 3. Jetzt gerade, an einem Februarmontag gegen Mittag, zeigt der Internist her, wofür er seine Bekanntheit und seine guten Kontakte in letzter Zeit besonders genutzt hat: die Entstehung eines Gebäudes in Wien-Favoriten. Es soll ein "Ort der Hoffnung und Begegnung" sein in einem Bezirk, dem der Ruf eines Problembezirks vorauseilt.

Cape 10 heißt das Haus mit der Adresse Alfred-Adler-Straße 1, 1100 Wien, das nur mit Spenden von Privatpersonen und aus der Wirtschaft errichtet wurde.
Foto: Christian Fischer

Sichtbeton und billige Lampen

"Cape 10" steht in roten Lettern über dem Eingang des Neubaus in der Alfred-Adler-Straße 1, einen Steinwurf vom Hauptbahnhof entfernt. Er ist Teil des Sonnwendviertels. Das zweistöckige Haus mit dem Holzaufbau auf dem Dach fällt allein schon deshalb auf, weil die anderen Gebäude ringsum viel höher sind. Innen "viel Sichtbeton, billiger Boden und billige Lampen", beschreibt Meryn die Ausstattung – stolz, dass man auf jeden Euro geachtet habe, was man dem Gebäude aber nicht ansieht. Entstanden ist ein Mammutprojekt: Rund 5000 Quadratmeter Fläche umfasst das Haus, rund 8,5 Millionen Euro kostete es. Im Herbst 2018 war Spatenstich, Ende 2019 stand der Rohbau. Private und Firmen haben den Hausbau ermöglicht, ohne Fördergeld.

Als Erstes ist Obdach Ester eingezogen, ein Tageszentrum für wohnungslose Frauen vom Fonds Soziales Wien. Die Besucherinnen haben eine abgeschirmte Terrasse für sich, es gibt eine Küche, Waschmaschinen und Duschen. Gleich gegenüber bietet an zwei Nachmittagen pro Woche "Dock" vom Neunerhaus und der Vinzenzgruppe medizinische Versorgung und Beratung für obdachlose und unversicherte Menschen an. Außerdem gibt es ein Primärversorgungszentrum und einen HNO-Arzt sowie eine Kinderärztin auf Kasse. Bis zum Sommer soll eine Apotheke einziehen. Und für eine Gastrofläche gebe es inzwischen wieder Interessenten. Die Pandemie hat die Pläne hier zurückgeworfen.

1450 war eingemietet

Auf den Büroflächen im zweiten Stock nahmen bis vor kurzem Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Gesundheitshotline 1450 Anrufe entgegen. Bald soll sich dort das Future Health Lab einmieten und digitale Innovationen im Gesundheitsbereich voranbringen. Einer der zwei CEOs: Siegfried Meryn.

Ständig schieben Menschen Kinderwägen durch den Eingangsbereich, auf dem Weg zur Kassen-Kinderärztin im ersten Stock.
Foto: Christian Fischer

Ununterbrochen queren Menschen mit Kinderwagen das Foyer. Kinderärztin Sevinc Yildirim betreibt im ersten Stock eine von nur drei Ordinationen für Kinder- und Jugendheilkunde mit Kassenvertrag in Favoriten, obwohl im bevölkerungsmäßig größten Bezirk Wiens der Anteil der unter 20-Jährigen stetig wächst. Schon beim Eingang kann, wer den Blick hebt, durch Glasscheiben in den geräumigen Warteraum der Praxis sehen. Vice versa beobachten die kleinen Patientinnen und Patienten gern von oben die Spiegel, die beim Entrée von der Decke hängen und sich drehen. Sie gehören mit einer vier Meter großen Kugel aus Längen- und Breitengraden zu einem Kunstwerk Eva Schlegels.

Schlegel zählt zu einer Reihe von Künstlerinnen und Künstlern, die sich für das Projekt Cape 10 engagieren; so leitet etwa Erwin Wurm das künstlerische Konzept des Hauses, aber auch andere waren oder sind aktiv: zum Beispiel David Schalko, Elina Garanča und Nicholas Ofczarek. Im Veranstaltungsraum mietet sich am 28. Februar "Wir Staatskünstler" ein, mit Robert Palfrader, Thomas Maurer und Florian Scheuba. Ein Teil der Karten ist für Kinder aus Sozialprojekten reserviert.

Von der Decke hängende Spiegel bilden im Foyer mit einer vier Meter großen Kugel aus Längen- und Breitengraden ein Kunstwerk Eva Schlegels. im Hintergrund oben ist durch eine Scheibe ein Ordinationswarteraum zu erkennen.
Foto: Christian Fischer

Das Event wird im Veranstaltungssaal im Keller stattfinden, der bis zu 350 Personen fasst. Meryn steigt die Treppe hinunter in den Raum mit unverkleideten Rohren an der Decke. Die Einnahmen aus der Vermietung des Saals, der in der Mitte teilbar ist, sind wichtig für die gemeinnützige Cape-10-Stiftung, zu der nun zwei schon früher von Meryn gegründete Initiativen gehören. "Nein zu Arm und Krank" will seit 2009 Kindern und alleinerziehenden Müttern medizinische Leistungen ermöglichen, die sie nicht auf Kasse erhalten – von Heilbehelfen bis hin zu einem Therapiehund oder Therapiestunden. 73 Familien wurden im Vorjahr unterstützt.

Arzt, Cape-10-Initiator und Spendensammler Siegfried Meryn im Veranstaltungssaal im Keller, wo bis zu 350 Personen Platz haben.
Christian Fischer

Nachfrage übersteigt Ticketzahl

Das Projekt "Max & Lara" soll armutsgefährdeten Kindern Teilhabe ermöglichen. In Österreich werden rund 368.000 Kinder dieser Gruppe zugerechnet. Dank "Max & Lara" sollen Betroffene Sportevents, ein Musical, Museen oder die Eishalle besuchen können. "Selbst ein paar Euro Elternbeitrag für einen Schulausflug sind oft nicht drin", sagt Elfriede Wittberger, schwarze lange Haare, dunkle Bluse. Sie ist Projektmanagerin bei Cape 10 und arbeitet schon lange mit Meryn zusammen. Der Ansturm auf die Freizeiterlebnisse sei enorm, zuletzt bei Eishockey habe es für 40 Karten 90 Anfragen gegeben. Insgesamt gab es im Vorjahr Aktionen für 270 Kinder, oft halfen Patinnen und Paten.

Wenn der Keller des Cape 10 nicht vermietet ist, finden dort auch Veranstaltungen für junge Menschen des Bezirks statt, im vergangenen Jahr zum Beispiel 18 Workshops mit Schulklassen, zum Kreativsein, Musikerleben oder zur Diskussion über Cybermobbing. Auch Weihnachtsgeschenke für "Max & Lara"-Kinder wurden dort feierlich übergeben. "Für alle Kinder, egal welcher Religion", sagt Meryn über die von der OMV unterstützte Aktion. "Wir sind nicht politisch, und wir sind nicht religiös." Es gehe darum, den Kids zu zeigen, dass sie wichtig sind. "Wenn man dann erfährt, was da für Wünsche geäußert werden; dass es Kinder gibt, die sich eine Bratpfanne oder Schuhe wünschen statt Spielzeug, dann weiß man, wie ernst die Lage ist."

Ein neues "Wir" als Ziel

Es geht aufs begrünte Flachdach hinauf. Die massiven Holzbalken, die es lose überdachen, sollen noch von Grün bewachsen werden. Im Sommer soll es Jazzevents geben. Hier überblickt man einen Teil dieses noch neuen Grätzels Favoritens. 30 von 50 Schulen im Bezirk seien sogenannte Brennpunktschulen, sagt Wittberger. Die Schulabbrecherrate sei höher als anderswo. Die Lebenserwartung um fünf bis sieben Jahre geringer, ergänzt Meryn. "Es muss Chancengleichheit geben, aber zur Geburt besteht sie schon nicht mehr", sagt er. Das sei nicht fair. Zumindest "eine Träne im Ozean" wolle er da sein und "im Denken ein Stachel, um das Wegschauen schwieriger zu machen". Es brauche ein neues "Wir", skizziert der Arzt. Einen Ort dafür gebe es bereits.

Meryn schaut auf die Uhr. Zehn Minuten hat er noch. Inwieweit ist er seinem Ziel in den zwei Jahren, die das Haus inzwischen steht, näher gekommen? Vieles sei gelungen, "gleichzeitig haben wir festgestellt, dass der Bedarf an Hilfe und die Notlage viel größer sind, als wir uns das vorgestellt haben. Wir werden regelrecht gestürmt", sagt Meryn. Die Nachfrage nach Unterstützung sei ein Vielfaches dessen, was man anbieten könne. Teuerung und Ukrainekrieg verschärften die Lage noch. Er wolle noch mehr bewegen und Diskussionen anstoßen. Meryn umreißt grob ein paar Projektideen für die Zukunft. Dann muss er aber wirklich los – ins Fernsehen. (Gudrun Springer, 28.2.2023)