Wie viele medizinische Studien geschönte oder gar völlig falsche Daten enthalten, lässt sich kaum absehen. Bis Fachjournale Publikationen zurückziehen, dauert es oft lange.
Foto: Getty Images/iStockphoto

Diederik Stapel galt in der Sozialpsychologie als Koryphäe. Aber dann schoss er sich selbst ins Knie. "Ich wollte immer schneller, besser und schlauer sein", sagt er in der Rückschau über sich selbst. Im September 2011 wurde bekannt, dass Stapel in großem Stil Forschungsdaten manipuliert und gefälscht hatte. Letztlich mussten 58 veröffentlichte Studien zurückgezogen werden, an denen er beteiligt war.

Stapels niedergeschriebene Erinnerungen "Faking Science" sprechen Bände darüber, was Wissenschafter dazu antreibt, frei erfundene oder manipulierte Studien zu publizieren: "Ich dachte, es würde helfen, wenn ich nur diese eine winzige Abkürzung nehmen würde, aber ich fand mich immer öfter auf der völlig falschen Spur und am Ende gar nicht mehr auf der Straße."

Der Fall Stapel ist einer der bekannteren Wissenschaftsbetrügereien. Aber er ist bei weitem nicht der einzige. Die gut dokumentierten Fälle, in denen Forschenden wissenschaftliches Fehlverhalten nachgewiesen und bereits publizierte Studien zurückgezogen wurden, sind dabei nur die Spitze des Eisbergs. Besonders verheerend sind die Folgen im Bereich der Medizin. Schätzungen gehen davon aus, dass Millionen Patientinnen und Patienten durch wissenschaftliches Fehlverhalten zu Schaden kommen.

2600 Studien zurückgezogen

Laut dem Publikations-Watchblog "Retraction Watch" wurden im Jahr 2022 bei biomedizinischen Veröffentlichungen rund 2600 Studien von Fachjournalen aufgrund von Mängeln zurückgezogen – seien es Fehler, Manipulationen oder komplette Fälschungen. Zum Vergleich: 2018 waren es nicht einmal halb so viele.

Angesichts der Fülle an Veröffentlichungen scheint das nicht viel: Etwa eine von 1000 Studien im Forschungsbereich Biomedizin wird im Schnitt später wieder zurückgezogen. Ivan Oransky, ein Mitgründer des Blogs, der für wissenschaftliche Integrität eintritt, geht aber davon aus, dass bis zu eine von 50 Studien unzuverlässige Ergebnisse enthält. Doch nur in den wenigsten Fällen ist das Fehlverhalten zweifelsfrei nachweisbar und führt zur Entlarvung der Fake-Studien.

Jahrelange Prüfungen

Besonders schwierig ist der Nachweis bei klinischen Studien, wenn nicht die Originaldaten veröffentlicht werden. "Datenfälschungen sind sehr schwer zu finden, wenn man nicht die Originaldaten kennt, sondern nur die veröffentlichten Studien", sagt Gerald Gartlehner, Leiter des Departments für Evidenzbasierte Medizin an der Donau-Universität Krems.

Es konnten allerdings auch etliche Fälle von Betrug nachgewiesen werden. Forschende haben dabei die Daten anderer Studien herangezogen und bloß die Behandlungsmethode in ihrer Publikation ersetzt, ohne tatsächlich jemals selbst Daten erhoben zu haben.

Solche völlig frei erfundenen Studien sind zwar die Ausnahme, kommen aber immer wieder vor. Ben Mol, Professor für Geburtshilfe und Gynäkologie an der Monash-Universität in Melbourne, hat genau solche Fälle reihenweise aufgespürt und den jeweiligen Fachjournalen, in denen sie veröffentlicht wurden, gemeldet. Wenn es aber überhaupt zur Prüfung kommt, dauert es bis zur Zurückziehung einer Studie oft Jahre: Von mehr als 750 Arbeiten, die Mol mit seinen Kollegen als auffällig gemeldet hat, wurden bisher bloß 80 zurückgezogen, wie kürzlich der "Economist" berichtete.

Falsche Anreize

Ein Hotspot für gefälschte Studien sind chinesische Forschungsinstitutionen: An beinahe der Hälfte aller zurückgezogenen Studien war zumindest ein Forscher einer chinesischen Institution beteiligt. Fachleute vermuten den großen Publikationsdruck, der auf chinesischen Wissenschaftern im medizinischen Bereich lastet, als einen der Gründe. Weiters dürfte eine Rolle spielen, dass Forschende an chinesischen Institutionen oft Bonuszahlungen erhalten, wenn sie in hochkarätigen Journalen publizieren – eine Praxis, die außerhalb von China unüblich ist.

Nicht nur die Bedingungen, wie es zu Fälschungen kommt, sondern auch die drohenden Konsequenzen sind von Land zu Land sehr unterschiedlich. "In Europa wird das meist noch als ein akademisches Kavaliersdelikt gesehen", sagt Gerald Gartlehner. Die betreffenden Studien werden zurückgezogen, in drastischen Fällen werden die Wissenschafter gekündigt. Sonst gibt es für die Betrüger kaum weitere Konsequenzen. Das Strafverfahren gegen Stapel wurde beispielsweise eingestellt unter der Auflage, dass er 120 Sozialstunden leistet.

Profit und Publicity

Ins öffentliche Bewusstsein schaffen es meist nur besonders krasse Fälle medizinischer Datenfälschung – etwa jener von Andrew Wakefield. Der ehemalige britische Mediziner veröffentlichte Ende der 1990er-Jahre eine Studie im renommierten Fachjournal The Lancet, die einen Zusammenhang zwischen der Kombinationsimpfung gegen Masern, Mumps und Röteln und der Entstehung von Autismus nahelegte. Zwei Jahre später stellte sich heraus, dass Wakefield Daten gefälscht hatte und von Anwälten für die Publikation bezahlt worden war.

Die Studie wurde zurückgezogen, Wakefield wurde in Großbritannien mit Berufsverbot belegt. Doch der Schaden war längst angerichtet: Das Image der Impfung war nachhaltig beschädigt, in Großbritannien fiel die Impfrate deutlich ab. Weltweit berufen sich Impfgegner bis heute auf Wakefields gefälschte Veröffentlichung und sorgen damit für Verunsicherung. (David Rennert, Tanja Traxler, 3.3.2023)