Verwandelt Gefühle unmittelbar in Klang: Pianist Jewgeni Kissin im Finale einer ihm gewidmeten Porträtreihe im Wiener Musikverein.

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Vor 33 Jahren gab Jewgeni Kissin sein erstes Konzert im Großen Musikvereinssaal. Er spielte unter der Leitung von Claudio Abbado Mozarts Klavierkonzert KV 466. Ein Jahr später – Kissin war noch keine 20 – folgte der erste Solo-Abend im Goldenen Saal. Seither gastiert der russische Wunderpianist fast jährlich am Haus, mit Orchester, Kammermusik oder Recitals. Kam der ewige Wunderknabe früher etwas schrullig daher, gibt sich der heute 52-Jährige deutlich gelöster. Er ist verheiratet, äußert sich politisch (etwa zu Putins Angriffskrieg, den er aufs schärfste verurteilt) und schreibt Jiddische Gedichte, die er manchmal sogar aufführt.

Am wohlsten fühlt sich Kissin jedoch am Klavier. Hier werden Gefühle unmittelbar in Klänge verwandelt. Hier meistert Kissin die technischen Herausforderungen, aufbrausend, draufgängerisch, furios. Hier entfaltet sich der feinsinnige Lyriker, zärtlich, charmant und wunderbar gelöst.

Am Freitagabend fand im Musikverein das Finale einer ihm gewidmeten Porträtreihe statt. Kissin eröffnete mit Bachs Chromatischer Fantasie und Fuge in d-Moll BWV 903 und spielte das kontrapunktische Meisterwerk mit saftigem Steinway-Klang, ohne dass Bach dabei je überladen wirkte. Auf barocke Satzkunst folgte Mannheimer Klassik mit Mozarts D-Dur-Sonate KV 311. Sie entstand, als Mozart versuchte, in der Stadt am Rhein Fuß zu fassen. Kissin hatte sichtbare Lust am Spiel mit den Kontrasten zwischen Frohsinn und Innigkeit, Heiterkeit und Dramatik. Dramatik war auch das Stichwort für die darauffolgende Polonaise in fis-Moll op.14 von Frédéric Chopin, die Kissin in ein packendes, düsteres Klanggemälde verwandelte.

Kantabilität und Brillanz

Die zweite Konzerthälfte widmete er seinem Landsmann Sergei Rachmaninow mit einer Auswahl an Préludes und Etüden, die alles vereinen, was das Klavierspiel des Russen ausmacht: atemberaubende Virtuosität und brillanten Klang, Kantabilität und Musikalität, die ihresgleichen suchen. Nur wenigen Pianisten gelingt es, das Innenleben der Musik auf solch phänomenale Weise freizulegen. Es folgen drei Zugaben, Jubel und Standing Ovations. (Miriam Damev, 5.3.2023)