ORF-3-Chefredakteurin Lou Lorenz-Dittlbacher.

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Wien – Im Jahr 2011 gegründet, erreicht ORF 3 nach ORF-Angaben derzeit täglich 900.000 Zuseherinnen und Zuseher. Kontinuierlich ausgebaut wurde dabei die Infoschiene mit einer täglichen Livestrecke von dreieinhalb Stunden. Am Dienstag präsentierte der ORF die Highlights der kommenden Programmsaison. Dazu gehören 300 Neuproduktionen und Live-Übertragungen aus Oper, Theater, Konzert und Kleinkunst sowie 220 aktuelle Zeitgeschichte-Produktionen. Für das Jahr 2023 sind 24 Millionen Euro für ORF 3 budgetiert. Der Marktanteil des Senders lag im Februar 2023 bei 3,4 Prozent.

Historisches Herzstück der nächsten vier Jahre sind 40 Folgen von "Österreich – Die ganze Geschichte". Bereits ab 21. März steht der monatliche Talk "Streitzeit" mit Peter Fässlacher auf dem Programm mit Themen, die von der Diskussion über Winnetou bis zu Klimaklebern und Cancel-Culture reichen, so der ORF. Mehr zu den Programmplänen von ORF 3 finden Sie unten in der Infobox. Wohin der Infobereich steuert, verrät ORF-3-Chefredakteurin Lou Lorenz-Dittlbacher.

STANDARD: Sie sind seit über einem Jahr Chefredakteurin von ORF 3. Wie sehr geht Ihnen die "ZiB 2" ab?

Lorenz-Dittlbacher: Als Zuseherin geht sie mir nicht ab, denn ich schaue sie ja immer. Sonst geht sie mir erstaunlich wenig ab. Das liegt aber nicht daran, dass ich so froh bin, dass ich weg bin, sondern daran, dass ich glücklich bin, hier zu sein. Dass ich mit diesem so jungen, engagierten Team so viel machen kann und dass wir die Welt im Infobereich ein bisschen neu erfinden können, das ist ein großes Privileg und macht mir riesige Freude. So wunderbar die zwölf Jahre in der "ZiB 2" waren, so schön ist es jetzt bei ORF 3.

STANDARD: Es stört Sie nicht, dass Sie nicht mehr so sehr im Rampenlicht stehen wie als Moderatorin der "ZiB 2"?

Lorenz-Dittlbacher: Nein, wenn man das gehabt hat, kennt man die schönen Seiten und die Schattenseiten. Ich wurde ja nicht abgezogen, ich habe mir das sehr genau und lange überlegt, bevor ich mich beworben habe. Dieser Entscheidungsprozess hat viele Wochen gedauert. Wenn ich eine Entscheidung treffe, stehe ich auch dazu. Es ist noch besser, als ich mir erwartet habe, auch arbeitsintensiver.

STANDARD: Was waren die Schattenseiten in der "ZiB 2"? Die Nachtarbeit? Die vielen vermutlich auch negativen Reaktionen, die es nach Politikinterviews gab?

Lorenz-Dittlbacher: Man steht einfach sehr im Fokus. In der Corona-Zeit hatten wir eine Million Zuseher, jetzt sind es rund 700.000 im Schnitt. Natürlich gefällt nicht allen, was man macht, und es ist ein unglaublicher Druck. Man hat zehn Minuten Zeit, die Stoppuhr läuft, und man will die Fragen stellen, von denen man glaubt, dass sie das Publikum am meisten interessieren und die relevant sind. Unterbricht man den Gast, gefällt das vielen nicht, lässt man sie oder ihn reden, weil man glaubt, dass vielleicht doch noch eine Idee kommt, gefällt das vielen auch nicht. Und dann fehlt immer was in einem zehnminütigen Interview. Diese Auswahl polarisiert, das gilt für alle Moderatorinnen und Moderatoren der "ZiB 2", das war immer schon so. Damit muss man jeden Tag umgehen, und man hinterfragt sich. Ich war nie mit mir zufrieden, so bin ich halt. Wenn man bis in die Nacht hinein überlegt, was man falsch gemacht hat, ist das schon anstrengend. Das ist eine Seite.

STANDARD: Und die andere?

Lorenz-Dittlbacher: Dass es meistens wunderbar war. Welch größeres Privileg gibt es, als jene Menschen interviewen zu dürfen, die die Geschicke dieses Landes leiten. Das ist das Licht, das andere ist der Schatten.

STANDARD: Haben Sie sich diese Reaktionen zu Herzen genommen, oder perlt das an Ihnen ab?

Lorenz-Dittlbacher: Das kommt darauf an, von wem sie kommen. Am Anfang war es eine ziemliche Wucht. Sind die Reaktionen positiv, hält man sich für viel größer, als man ist. Wenn sie negativ sind, ist es umgekehrt. Daran gewöhnt man sich aber. Mir war und ist die Meinung einiger weniger Menschen sehr wichtig, aber man muss sich davon verabschieden, dass man 650.000 Menschen gefällt. Man macht weder für Twitter die "ZiB 2"-Interviews noch für eine politische Partei oder sonst jemanden. Man macht sie immer für das gesamte Publikum.

STANDARD: Der ORF muss sparen und dürfte ORF Sport Plus als linearen Kanal einstellen. Hatten Sie die Befürchtung, dass es auch ORF 3 treffen könnte? Gab es eine Diskussion darüber?

Lorenz-Dittlbacher: Zumindest hat mich eine solche Diskussion nicht erreicht. Im ORF-Gesetz steht, dass ORF 3 nach wirtschaftlicher Maßgabe zu betreiben ist, dann denkt man schon nach. Ich war aber immer sehr zuversichtlich, dass es keine Diskussion über einen Sender geben wird, der den öffentlich-rechtlichen Auftrag so sehr erfüllt wie ORF 3 Kultur und Information, und das jeden Tag viele Stunden, und wenn dieses Programm stetig mehr Zuseher bekommt, dann wüsste ich nicht, warum man an diesem Auftrag rütteln sollte.

STANDARD: Aber das Sparvolumen wäre um einiges größer, denn ORF 3 hat ein viel größeres Budget als ORF Sport Plus.

Lorenz-Dittlbacher: ORF 3 hat ein kleines Budget und würde das Gesamtunternehmen nicht retten. Aber es würde das Image so beschädigen in meinen Augen, dass man das nicht machen kann. Niemand überträgt am Sonntag um 20.15 Uhr die "Aida" aus der Staatsoper oder die "Salome", niemand macht dreieinhalb Stunden Live-Information mit journalistischer Einordnung. Wir haben jeden Tag sechs bis acht Livegäste. Dieses Angebot ist aus meiner Sicht nicht mehr wegzudenken.

STANDARD: Es gab seit der Gründung des Senders kritische Stimmen, die gefordert haben, dass man das ORF-3-Programm auf ORF 2 spiegeln könnte. Bekommen Sie diese Debatte noch mit, oder ist ORF 3 als eigenständiger Kanal bereits so etabliert?

Lorenz-Dittlbacher: Die Debatte kann es nicht geben. Das Publikum, das Opern anschaut, ist natürlich ein kleineres. Wenn man Quote generieren will, und das möchte man, dann muss man sich überlegen, wo was gespielt wird. ORF 2 ist der Quotentanker im österreichischen Fernsehen. Das generiert man mit einem Programm, das nicht unbedingt die Oper sein muss. Deshalb ist die Vielfalt wichtig. Würden wir in ORF 3 am Samstag auch einen "Tatort" spielen statt Zeitgeschichte mit vier Dokumentationen hintereinander – etwa über den Ukrainekrieg –, dann könnte man darüber diskutieren. Wir machen in ORF 3 Programm, das Kultur, Information und Zeitgeschichte umfasst. Natürlich ist das kein Massenprogramm, hat aber eine enorme Qualität.

STANDARD: Warum werden nach wie vor keine Quoten veröffentlicht?

Lorenz-Dittlbacher: Das ist eine Philosophie, die es im Unternehmen gibt und die den Druck nehmen soll. Dass man sagt, wir machen unser Programm nicht wegen der Quote, sondern aufgrund des Qualitätsanspruchs. Es ist uns nicht so wichtig, ob wir beim Marktanteil niedriger oder höher liegen. Wir gewinnen immer mehr dazu. Im Vormittagsprogramm sind wir mit unserer Infostrecke "ORF 3 Aktuell" immer wieder unter den Top-drei-Sendungen des gesamten österreichischen TV-Vormittagsprogramms. Diese Quoten bestätigen uns.

STANDARD: In welchen Bereich bewegen sich die Marktanteile dann?

Lorenz-Dittlbacher: Vergangene Woche hatten wir mal neun Prozent und sieben Prozent. In der Spitze.

STANDARD: Das Publikum zahlt mit seinen Gebühren für die Sendungen, die der ORF produziert. Hat es nicht das Recht zu erfahren, wie viele Leute sie sehen?

Lorenz-Dittlbacher: Das ist eine unternehmenspolitische Entscheidung. Das habe nicht ich eingeführt, deswegen kann ich es auch nicht abschaffen.

STANDARD: Es gab Kritik der Parlamentsparteien, dass der ORF die Nationalratsdebatten nur mehr auf ORF 3 und nicht mehr auf ORF 2 übertragen wollte. Das spricht nicht unbedingt für den Stellenwert von ORF 3, oder?

Lorenz-Dittlbacher: Das ist ein großer Irrtum. Wir haben vorvergangenen Freitag die Sondersitzung der Neos zum Ukrainekrieg übertragen. ORF 2 hatte zehn Prozent Marktanteil, ORF 3 sechs Prozent. Ich sehe da jetzt keinen ganz großen Unterschied. Natürlich: Wenn es einen Misstrauensantrag gibt oder eine Budgetrede, ist das Interesse größer, aber in Wirklichkeit liegen die Quoten nicht so weit auseinander. Es kränkt mich nicht, es ärgert mich nicht. Wir übertragen sowieso immer alles, was aus dem Nationalrat und dem Bundesrat kommt. 70 Prozent sieht man nur auf ORF 3, jetzt schon. Die Aufregung ist ein bisschen virtuell.

STANDARD: Wie sieht es derzeit mit politischen Interventionen aus? Werden Sie als Chefredakteurin seltener oder häufiger damit konfrontiert als in der "ZiB 2"?

Lorenz-Dittlbacher: Anders. Bei der "ZiB 2"-Moderation spürt man unmittelbar, ob ein Gast unzufrieden ist oder nicht oder das Gefühl hat, er wurde zu den falschen Themen befragt. Jetzt geht es eher darum, dass manchmal Vertreter politischer Parteien den Eindruck haben, dass zum Beispiel eine Frage nicht punktgenau gestellt war oder dass etwas falsch ist. Dann rufen sie an und erzählen mir das, wissen aber wohl ganz genau, was passiert: Ich bin immun gegen Interventionen. Deswegen passiert das nicht sehr oft. Ich schaue mir das aber an, bis jetzt war es aber nie falsch, und es war nichts zu korrigieren. Und die Sache ist erledigt. Das sind aber keine Interventionen im klassischen Sinne. Anrufen kann man eh, aber ich bringe keine Wünsche auf Sendung, und ich schieße nichts raus.

STANDARD: Kritik per se ist legitim?

Lorenz-Dittlbacher: Mir ist lieber, dass man mir das selbst sagt, als das irgendwo anders zu deponieren. Es kommt aber sehr selten vor, da waren es dann normale Gespräche. Das gehört dazu. Das Team kann sich darauf verlassen, dass ich hundertprozentig vor, neben und hinter ihm stehe.

STANDARD: Servus TV und besonders Puls 24 mit Formaten wie "Wild umstritten" setzen immer mehr auf Talksendungen. Der ORF hat nur "Im Zentrum" zu bieten. Ist auf ORF 3 etwas Neues in Planung?

Lorenz-Dittlbacher: Wir haben jeden Donnerstag das Talkformat "Politik live" zum politischen Wochenthema um 21.05 Uhr. Das ist eine Runde, die mit den Genannten vergleichbar ist. Alle vier Wochen haben wir auf demselben Sendeplatz die "Runde der ChefredakteurInnen". Wir überlegen, ob wir "Politik live" noch ausbauen, dass wir einen noch prominenteren Sendeplatz bekommen. Politischer Talk ist immer ein Thema, auch bei uns, mit sehr spannenden Gästen wie Heinz Fischer, Heide Schmidt, Benita Ferrero-Waldner, Maria Rauch-Kallat oder immer wieder auch amtierenden Ministerinnen und Ministern. Da müssen wir uns wirklich nicht verstecken.

STANDARD: Sollte man es breiter machen und mehr in Richtung Gesellschaftspolitik öffnen, statt zu sehr auf die parteipolitische Schiene zu setzen?

Lorenz-Dittlbacher: Wir haben noch "Themenmontag: Der Talk", das geht mehr in diese Richtung. Ich bin aber überzeugt, dass die Menschen jetzt Antworten brauchen. Ich habe das Gefühl, dass man nicht die ganze Zeit streiten muss. Nach diesen sehr anstrengenden drei Jahren und der anhaltend anstrengenden Zeit wollen die Leute Lösungen haben. Das sieht man auch bei den Landtagswahlen, dass ihnen diese Lösungen fehlen. Das ist mir ein großes Anliegen. Dass man darüber spricht, wie man ein Problem lösen kann und nicht, dass mehrere Protagonistinnen und Protagonisten darüber diskutieren, wie man es nicht macht.

STANDARD: In Richtung "Wissenscheck", den Sie etwa zur Corona-Impfung und zur Energiekrise hatten?

Lorenz-Dittlbacher: Ja, das auch, das wollen wir eh noch ausbauen, aber nicht nur. Man kann natürlich mit Politikern diskutieren, wir wollen aber noch stärker lösungsorientiert arbeiten. Wenn es die Kernkompetenz vieler Gäste ist, den Fragen auszuweichen, muss man überlegen, wie man die Kompetenz wieder reinholen kann. Das ist ein Prozess, den wir intern diskutieren.

STANDARD: Auch im Sinne eines konstruktiven Journalismus, weil es heißt, dass sich immer mehr Leute von den Nachrichten abwenden, da sie in erster Linie negativ sind.

Lorenz-Dittlbacher: Das sieht man in den Quoten gar nicht. Ich bekomme aber schon auch das Feedback, dass man genug von der Politik hat, die Leute schauen es aber trotzdem. Daher gehe ich davon aus, dass man etwas sucht, das man nicht bekommt. Was könnte das sein? Die Teuerung muss man irgendwie lösen. Die Energiekrise auch. Dass man hier in Österreich nicht den Krieg in der Ukraine beenden kann, ist auch klar, aber man kann trotzdem darüber reden, wie wir mit den Geflüchteten umgehen, welche Perspektiven es am Arbeitsmarkt gibt und so weiter.

STANDARD: Auf ORF 3 sind unzählige Dokumentationen zu sehen. Wie sehr schmerzt es, dass sie aufgrund der Sieben-Tage-Regelung nicht länger in der ORF-TVthek abrufbar sind?

Lorenz-Dittlbacher: Das schmerzt und ist wirklich schade. Das sind tolle Produkte, das gilt aber nicht nur für ORF 3, sondern für den gesamten Konzern. Das Publikum weiß oft gar nicht, dass das eine rechtliche Regelung ist, und macht uns dafür verantwortlich, dass wir die Bösen seien, die das nicht mehr zeigen. Das ist ein Jammer.

STANDARD: Fritz Dittlbacher tritt ja auf ORF 3 regelmäßig als Experte auf und analysiert die Politik. Interviewen auch Sie Ihren Mann, oder gibt es eine Richtlinie, die das verbietet?

Lorenz-Dittlbacher: Nein (lacht). Wir sind jetzt bald 16 Jahre verheiratet, und ich habe ihn noch nie interviewt. Außer zu Hause. Es gibt keine Richtlinie im ORF. Ich würde ihn aber auch nicht interviewen wollen. Wie schaut denn das aus? Meine Vorgängerin Ingrid Thurner hat ihn gefragt, ob er das machen möchte. Er macht es weiter jeden Montag. Diese Frage, ob mein Mann kommentieren darf, wurde mir auch bei der Redakteursversammlung gestellt. Es gibt insgesamt sechs Kommentatoren, die sich die rund 20 Sendungstage im Monat teilen. Das ist gerecht aufgeteilt, er hat weder einen Vorteil noch einen Nachteil.

STANDARD: Bis jetzt gibt es keine Richtlinie, wie die ORF-Redaktionen gendern. In der "ZiB 2" wird es konsequent gemacht, wie halten Sie es bei ORF 3?

Lorenz-Dittlbacher: Bei uns wird auch konsequent gegendert, und zwar so, wie das jeder und jede für richtig hält. Die jungen Kolleginnen und Kollegen machen das gerne mit dem gesprochenen Abstand. Ich sage zum Beispiel lieber Journalistinnen und Journalisten. Die Leute in meinem Team sind so jung, die kennen das gar nicht anders. Nicht zu gendern ist für sie kein Thema. Irgendeine Form des Genderns sollte es auf jeden Fall geben.

STANDARD: Ist ORF 3 schon da, wo Sie den Sender im Infobereich gerne positioniert hätten, oder fehlt noch einiges?

Lorenz-Dittlbacher: Ich hätte gerne mehr, auch wenn ich mit vier Stunden live schon so viel habe. Mir würde einiges einfallen. Ich sehe aber ein, dass es in Zeiten des Sparens ein frommer Wunsch ist. Ich möchte es halten und ausbauen, wo es geht.

STANDARD: ORF 3 soll ja auch eine Talenteschmiede für Moderatorinnen und Moderatoren sein. Gelingt das?

Lorenz-Dittlbacher: Wir haben einige Talente im Team – da staune ich nur so. Einige sind noch unter 30 Jahre alt. Sie sind so weit in ihren Fähigkeiten, das war ich damals mit dem Alter nicht. Da hilft diese Dreieinhalb-Stunden-Livestrecke sehr. Das ist eine unfassbare Freude und eine ganz neue Aufgabe, die mich erfüllt. Dass ich den Eindruck habe, ich kann so viel von meiner Erfahrung weitergeben. Das ist ein Geschenk, ich kann mir kein größeres vorstellen. (Oliver Mark, 7.3.2023)