Der norwegische Bestsellerautor will es mit den bedeutenden Romanen der Weltliteratur aufnehmen.

Foto: Sølve Sundsbø

Große Romane müssen lang sein, das ist eine Art ungeschriebenes Gesetz. Der Mann ohne Eigenschaften, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit,Ulysses, A Glastonbury Romance, Joseph und seine Brüder, auch ein großer Antiroman wie The Making of Americans von Gertrude Stein – alle 1000 Seiten und mehr. Es gibt Ausnahmen, klar. Madame Bovary ist geradezu kompakt, mittellang, und selbst die längeren Romane von Flaubert sind kurz im Vergleich zu Wälzern von Balzac oder Zola. Der neue Roman Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit von Karl Ove Knausgård hat 1054 Seiten. Er ist also eindeutig lang. Aber ist er auch groß? Die Frage könnte man natürlich einfach beiseitelassen und es mit einfacheren Kriterien versuchen: Ist er spannend? Kann er mit einer sehr guten Fernsehserie mithalten? Führt er zu Momenten der wahren Empfindung? Soll man ihn lesen?

Für ein großes Publikum ist die letzte Frage belanglos. Diese Menschen sind Fans, sie sind Knausgård schon durch alle sechs Bände seines autobiografischen Romanzyklus Min Kamp gefolgt (der Titel blieb im Deutschen unübersetzt, Hitler hat ihn für alle Zeiten verdorben). Sie werden sich nun darüber freuen, dass es einen neuen Zyklus gibt: Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit folgt auf Der Morgenstern (deutsch 2022), weitere Bände sind zu erwarten, denn es bleibt einiges offen nach den 1054 Seiten. Zum Beispiel, was es mit Helge auf sich hat, der nur zweimal kurz auftaucht, darunter ganz am Anfang. Das kann es nicht gewesen sein, man wüsste gern, wer Helge genauer ist und wie es mit ihm weitergeht.

Teebeutel und Kaffeehäferl

Karl Ove Knausgård, "Der Roman ist die Form des Teufels. Tübinger Vorlesungen". € 15,– / 128 Seiten. btb, München 2023.
btb

Das ist das geläufige Motiv, aus dem man Romane liest. Es gleicht dem eigenen Leben und dem der Menschen, mit denen wir irgendwie zu tun haben: Wir wollen nicht, dass es aufhört, sondern wir wollen wissen, dass und wie es weitergeht. Bei den meisten Menschen geht das Leben weiter, indem sie morgens einen Teebeutel in heißes Wasser hängen, die Kühlschranktür öffnen und vielleicht kurz über die Schönheit des Morgenlichts staunen. Das sind alles typische Knausgård-Momente, wenn man alle Teebeutel und Kaffeehäferln aus seinen Romanen streichen würde, wären sie gleich einmal ein paar Dutzend Seiten dünner. Aber sie wären eben auch nicht mehr ganz Knausgård.

In Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit gibt es zwei längere Erzählblöcke. Der erste geht über knapp 500 Seiten und handelt von Syvert, einem jungen Mann anno 1986 (da war Knausgård auch gerade jung, das merkt man unter anderem an der Musikauswahl im Text, von Black Sabbath bis AC/DC). Syvert kommt vom Militär nach Hause, verbringt einen Sommer mit Mutter und Bruder und entdeckt ein Geheimnis seines schon verstorbenen Vaters. Im Mittelpunkt des anderen Blocks steht Alevtina, eine russische Biologin, die sich dafür interessiert, ob Bäume ein Bewusstsein haben, und die ungefähr so alt ist, dass sie die Sowjetunion noch kannte (ihre Eltern sind sogar bis ins Mark sowjetisch), dass sie aber vor allem die Epoche seit 1991 repräsentieren kann. Knausgård lässt in diesen Passagen sehr elegant die Zeitebenen durcheinanderlaufen, er schafft so etwas wie eine geschichtete Gegenwart, mit der er nicht nur das Russland von Putin meint, sondern tatsächlich unser aller Gegenwart. Es geht ihm um mehr als nur die Schicksale, die der Kommunismus und der Neoliberalismus geschaffen haben (Syvert hält es ein wenig mit frühpopulistischer Politik). Es geht ihm um das Geschick der Menschheit als solcher, und es geht ihm um die größte aller Fragen, gegen die übrigens auch die meisten der großen Romane anschreiben: den Tod.

Die Rätsel der Existenz

Der Morgenstern-Zyklus beschäftigt sich mit moderner, nachkonfessioneller Religiosität, also mit den ganzen Phänomenen, die ins Leben dringen, wenn man sich ein wenig von der Stumpfheit befreit, in die einen der Alltag versetzt. Mit den Epiphanien zwischen den Teebeuteln. Alevtina probiert es einmal mit Pilzen im hohen Norden, da erscheint ihr dann aber nicht der Erlöser, sondern ihre tote Mutter, oder vielleicht gar nur eine Spiegelung?

Der Mann ohne Eigenschaften wurde so dick, weil Musil sich von seiner Gegenwart einen literarischen Begriff machen wollte. Er schrieb essayistisch, wie auch Knausgård, der etwa in Kämpfen, dem letzten Band von Min Kamp, ausführlich über Hitler nachdachte. Er war immer schon ein Autor, der selbst viel gelesen hat und davon Gebrauch machte. In Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit (der Titel ist Marina Zwetajewa entlehnt) steckt nun viel Kosmismus und Transhumanismus, obskure Sowjetwissenschaft trifft auf Silicon-Valley-Visionen von einem ewigen Leben, das sich Tech-Gurus gern kaufen würden.

Erzählerisch ist das eher schwach integriert, spannend ist es aber auf eine gewisse Weise trotzdem, man kann sich das eine oder andere notieren und nachschlagen, zum Beispiel zu Leonid Pasternak, dem Vater von Boris Pasternak, dem Autor von Doktor Schiwago (einem etwas kürzeren unter den langen Großromanen). Leonid malte Tolstoi gemeinsam mit dem Philosophen Solowjow und einem Bibliothekar namens Fjodorow – ein spannendes Wunschbild moderner Mystik.

Weltliteratur

Karl Ove Knausgård,"Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit". € 30,84 / 1056 Seiten. Luchterhand, München 2023.
Luchterhand

Dass Knausgård es sehr wohl mit den wirklich großen Romanen der Weltliteratur aufnehmen will, kann man auch seinen Poetik-Vorlesungen entnehmen, die ebenfalls gerade erschienen sind: Der Roman ist die Form des Teufels handelt im ersten Teil von Flaubert, Joyce und Proust – und Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit enthält ausgerechnet in der zentralen "theoretischen" Passage eine deutliche Verneigung vor Prousts berühmtem Romananfang, der ein Ich an der Grenze zwischen Wachen und Traum schildert. Proust stand auch ganz am Anfang von Knausgårds Schreiben. Er war Mitte zwanzig, als er Auf der Suche nach der verlorenen Zeit las, dann brauchte er gut zwei Jahre, um den Eindruck innerlich zu verarbeiten, seither geht es ihm beim Schreiben vergleichsweise leicht von der Hand. Er sucht und findet ständig "den Augenblick", selbst wenn er überfrachtet, was er im Morgenstern-Zyklus zweifellos tut, bleibt er alltäglich und nahe an den Geheimnissen eines Lebens, wie es die meisten Menschen in Europa führen – von den gröbsten materiellen Sorgen befreit, nicht aber von den Rätseln der Existenz. Die werden eher immer größer.

Alle Zeit der Welt

Zu diesen Rätseln zählt auch eine Frage, die für das Lesen von Knausgård relevant ist: Soll man viele Stunden kostbarer Zeit für Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit aufwenden, wenn man bisher nichts von Virginia Woolf oder Clarice Lispector gelesen hat (um zwei Frauen zu nennen, die große, dabei nicht unbedingt irre lange Romane geschrieben haben)? Der Erfolg von Knausgård hat vielleicht auch damit zu tun, dass er so gekonnt suggeriert, man hätte beim Lesen alle Zeit der Welt. "Nichts ist charakteristischer für unsere Gegenwart, als dass sie weit offen steht", schreibt er in seinen Vorlesungen. Er schafft es, diese Offenheit immer wieder so zu schließen, wie Schmöker das tun, die eben immer "ausgehen" oder "aufgehen".

Knausgård besetzt genau die Grenze zwischen Lesefutter und großer Literatur. Im Prinzip genial, denn damit bekommt er sowohl die Wegleser wie die Bildungsleser. Über seinen Rang sollen sich künftige Generationen den Kopf zerbrechen. (Bert Rebhandl, 11.3.2023)