Marlies Raich: "Sie ist die beste Skifahrerin, die ich je gesehen habe. Technisch perfekt ..."

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Shiffrin hat mit ihrem 86. Weltcupsieg den Rekord von Ingemar Stenmark (li.) geknackt.

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Skirennlauf anno dazumal und heute. Am Samstag kann Shiffrin die schwedische Legende (li.) im zweiten Riesentorlauf zu Åre abschütteln.

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Vor zehn Jahren und drei Monaten hat Mikaela Shiffrin in Åre ihren ersten Weltcuperfolg gefeiert. Am Freitag ist das Absehbare passiert, die erfolgreichste Skirennläuferin aller Zeiten hat ebendort ihren 86. Sieg fixiert und ist mit Schwedens Rekordhalter Ingemar Stenmark gleichgezogen. Als Shiffrin 2011 als 16-Jährige begann, den Weltcup aufzumischen, fuhr sie noch mit Marlies Schild (heute Raich). Österreichs erfolgreichste Slalomläuferin hat kommen sehen, wozu die US-Amerikanerin imstande ist. Damals stand sie vor einer "großen Herausforderung", während Shiffrin erste Erfolge einfuhr.

STANDARD: Kann man die zwei absoluten Größen des Skisports, Mikaela Shiffrin und Ingemar Stenmark, überhaupt vergleichen?

Raich: Es gibt so viele großartige Athleten. Ingemar Stenmark war zu seiner Zeit großartig, Mikaela ist es nun schon ein paar Jahre. So viele Siege zu erreichen ist schon sensationell. Sie wird am 13. März 28, kann noch ein paar Jahre auf dem Niveau fahren. Wenn sie fit bleibt, ist noch viel möglich. Es ist eine coole Sache für den Skisport. Sie ist eine Ausnahmeathletin, darüber wird geredet. Außerdem kann sie tanzen und singen. Sie ist ein Wahnsinnstalent in vielen Richtungen, das ist sensationell.

STANDARD: Sie waren damals, als Shiffrin begann, die beste Slalomläuferin, und Sie waren eine "Inspiration" für sie. Wie war das aus Ihrer Sicht?

Raich: Sie ist immer wieder zu mir gekommen und hat mir gesagt, was sie cool findet. Sie war immer sehr offen und hat gemeinsam mit ihrer Mutter immer geschaut, was ich und die anderen machen. Als sie 2011 in Lienz mit Laufbestzeit im zweiten Durchgang Dritte wurde, habe ich mir ihren Lauf öfter angeschaut. Mich hat ihre Unbekümmertheit und Lockerheit beeindruckt. Das hat sie perfektioniert. Es war für mich zum Karriereende schon schwierig, ich hatte meine Problemchen und wusste, es muss schon alles passen, dass ich schneller sein kann als sie. Das war eine große Herausforderung für mich.

29. Dezember 2011: Mikaela Shiffrin (re.) stand beim Sieg von Marlies Schild im Slalom von Lienz als Dritte erstmals auf einem Weltcup-Podest. Zweite wurde damals die Slowenin Tina Maze (li.).
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STANDARD: Damals im Dezember 2011 haben Sie den Slalom in Lienz gewonnen, und Shiffrin feierte in ihrer ersten Weltcupsaison die Podestpremiere. Wann sind Ihnen Shiffrins besondere Fähigkeiten erstmals aufgefallen?

Raich: Ein Monat davor in Aspen, als sie in ihrem vierten Weltcuprennen erstmals in die Top Ten fuhr. Es hat geheißen, es gibt eine Amerikanerin, die richtig, richtig gut Ski fährt. Und wir haben uns als Markenkollegen bei Atomic auch ausgetauscht. Sie war damals mit 16 schon eine extrem gute, exakte, athletische Skifahrerin. Und es war klar, dass sie ganz, ganz gut werden wird, wenn alles klappt. Das hat sie über Jahre durchgezogen. Sie hatte keine große Verletzung, aber sie hat es auch nach dem Schicksalsschlag, als ihr Vater starb, wieder geschafft, zurück in die Spur zu finden. Es ist alles perfekt auf sie abgestimmt. Sie kann in der Vorbereitung und im Training so agieren, wie es für sie am besten ist. Sie ist die beste Skifahrerin, die ich je gesehen habe. Technisch perfekt, auch Männer können sich etwas von ihr abschauen.

STANDARD: Der plötzliche Tod ihres Vaters hat ihr schwer zu schaffen gemacht. Ist sie darüber hinweg?

Raich: Physische Verletzungen können gut verheilen, seelische, wie dieser Verlust, wahrscheinlich nie. Es ist eine Lücke in ihrem Leben entstanden, die nicht mehr zu schließen ist. Es war ein enormer Schicksalsschlag, weil ihr Vater mitten aus dem Leben gerissen wurde.

STANDARD: Bei der WM hat sie bei vier Starts Gold im Riesentorlauf, Silber im Super-G, aber in ihrer Paradedisziplin Slalom "nur" Silber gewonnen. Sie klagte danach über Müdigkeit. Ist die physische und psychische Belastung am Limit?

Raich: Ja und nein. Der zweite Durchgang war ein schnell gesteckter Lauf, der schwierig zum Einschätzen war. Sie ist um die Spur zu rund gefahren und hat so die Zeit verloren. Das passiert auch der Allerbesten, das ist menschlich. Aber das passiert ihr kein zweites Mal. Sie analysiert das, speichert es ab, und bei einem ähnlichen Lauf wird sie es beim nächsten Mal auch umsetzen. Es ist aber auch für den internationalen Skisport eine gute Geschichte, wenn, wie mit der Kanadierin Laurence St-Germain, mal eine andere gewinnt. Shiffrin ist die Beste, das weiß sie, das wissen wir, aber den Sport macht Abwechslung interessanter.

STANDARD: Hat sie einen unstillbaren Erfolgshunger?

Raich: Sie kann in allen Disziplinen gewinnen, fährt aber nicht alle Rennen. Ihre Einsatzplanung ist ein wichtiger Faktor, warum sie über viele Jahre so erfolgreich war. Sie konzentriert sich auf ihre Kerndisziplinen, nimmt aber auch die Speeddisziplinen mit und fährt auch da um die ersten Plätze mit. Wichtig ist aber auch, dass sie sich herausnimmt und sich Ruhezeiten gönnt, weil sonst würde sie müde im Kopf werden. Ihr Umfeld trägt sicher einiges dazu bei, dass es für sie spannend bleibt und ihr die Ziele nicht ausgehen.

STANDARD: Shiffrin und Sie verbindet nicht nur die Leidenschaft für den Skirennsport, sondern auch die Partnerschaft mit einem erfolgreichen Rennläufer. Aleksander Aamodt Kilde bzw. Benjamin Raich. Profitiert man davon in der Karriere wie im Leben?

Raich: Wenn man einen Partner hat, mit dem man sich wohlfühlt, dann ist das ein guter Grundstock für eine Beziehung. Wenn der Partner weiß, was man fühlt und wie es einem geht, dann kann man auch besser abschalten und das Skifahren mal Skifahren sein lassen. Und wenn man sich gegenseitig zu Höchstleistungen antreibt, dann ist das auch eine gute Mischung. Wir wurden oft gefragt, ob wir zu Hause auch immer über Skisport reden, aber das war gar nicht so der Fall, man muss auch mal entspannen.

STANDARD: Shiffrin hat in einem Interview den weiblichen Zyklus angesprochen, was im ORF für ein Übersetzungs-Hoppala sorgte. Wird dem Thema genug Bedeutung eingeräumt?

Raich: Es war überraschend und erfrischend, dass sie es angesprochen hat, und mutig, weil es ein Tabuthema ist. Man kämpft schon mit sich selbst, und eigentlich darf man sich nichts anmerken lassen. Es ist auch nicht so ohne, unter Umständen kann dich das extrem einschränken. Das ist absolut ein Thema, dem mehr Beachtung geschenkt werden sollte. Ich habe früher auch zu wenig Rücksicht darauf genommen, weil ich fokussiert und ehrgeizig war. Ich habe trainiert, auch wenn ich müde war. Aber der Körper macht dann nicht so mit, wie man will. Es wäre gescheiter gewesen, zurückzustecken.

STANDARD: Viele österreichische Technikerinnen schwächeln. Fehlt es manchen an Siegermentalität?

Raich: Es ist eine Mischung aus vielen Gründen. Man muss sein Leistungsvermögen einordnen und dann weiterarbeiten. Das Ziel sollte sein, dass man am Ende ganz oben steht. Es liegt aber am ganzen Team. Wenn es nicht läuft, dann muss man bewusst richtige Schritte setzen. Das verlangt viel Fingerspitzengefühl. Oft sind es auch Zufälle, denen man es verdankt, dass man etwas lernt und besser wird. Im Dezember und Jänner mit den vielen Technikrennen ist es komplett in die falsche Richtung gegangen. Sie waren nicht in Form, haben es mit der Brechstange probiert, und dann drehte sich die Spirale nach unten. Sie müssen einen Weg finden, sich da wieder herauszuarbeiten. Von außen ist es schwer zu beurteilen, was genau falsch gelaufen ist. Katharina Liensberger hat die Lockerheit, das Unbekümmerte der Jugend momentan verloren. Es liegt viel Arbeit vor ihnen.

STANDARD: Sie hatten bereits mit 19 fünf Knieverletzungen hinter sich, fokussierten sich dann vornehmlich auf den Slalom, obwohl Sie auch in den schnellen Disziplinen Podiumsplätze geschafft haben. Waren die vielen Verletzungen auch ein Grund für den Rücktritt mit 33?

Raich: Es waren sehr intensive Jahre, die Verletzungen haben auch dazu beigetragen, dass es nicht easy durchgelaufen ist, sie haben viel Kraft gekostet. Gerade am Ende hatte ich viele Therapien und musste schauen, dass ich gut am Ski stehen kann. Das hat sicher dazu beigetragen, dass es nicht immer so lief, wie ich mir das vorgestellt habe. Aber ich hatte eine schöne Karriere und habe den richtigen Zeitpunkt zum Aufhören erwischt.

STANDARD: Sie sind bei der Sporthilfe engagiert und für Athleten im Bereich Wintersport zuständig. Worum geht’s da genau?

Raich: Ich bin bei den Einstufungssitzungen dabei und bekomme die Informationen über Athleten, die für Förderungen in Frage kommen. Bei Grenzfällen ist meine Sichtweise gefragt, die ich durch meine Erfahrung habe. Was ist das für ein Athlet? Hatte er schon Verletzungen? Aus welchem Umfeld kommt er? Ich beleuchte die Hintergründe und schaue, dass die jungen Athleten bestmöglich unterstützt werden.

STANDARD: Klingt nach keiner leichten Arbeit, zumal sich wohl viele Athleten finanzielle Unterstützung verdient hätten. Wir fair kann die Verteilung der Mittel sein?

Raich: Ich bin erst ein halbes Jahr dabei und soweit ich das beurteilen kann, machen sie es ganz gut und decken viel ab. Aber klar, irgendwer fällt leider immer durch den Rost und fühlt sich möglicherweise ungerecht behandelt. Wichtig ist mir die Motivation der Jugend für den Sport zu fördern. (Thomas Hirner, 10.3.2023)