Schriftstellerin Helga Schubert zeigt, dass von Glaube, Liebe, Hoffnung, die Liebe die Größte ist.

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Was für ein schöner Titel! Was für ein schönes Motto aus Matthäus 6,34, das zu Gelassenheit aufruft und für Zuversicht sorgt: "Es ist genug, dass ein jeglicher Tag seine eigene Plage habe." Und was für ein fulminanter erster Satz: "Jede Sekunde mit dir ist ein Diamant." Dieser Satz des geliebten Mannes nach 58 Jahren Liebe – Beziehung möchte man hier gar nicht sagen – überstrahlen die bittere Realität, die aus Pflegebett, Windeln, Blasenkatheter und Gebissreinigen besteht. Auch sein Kopf funktioniert schon lange nicht mehr, bringt die merkwürdigsten Verwirrungen hervor, aber die liebende und fürsorgende Frau begleitet ihn mit Humor in sein inneres Labyrinth, küsst ihm die Albträume von der Stirn.

Überlebensstrategien

Das neue Buch der wunderbaren Helga Schubert, deren Ruhm erst spät kam, weil erst eine Diktatur niedergerungen werden musste, bevor sie dann mit 80 Jahren endlich nach Klagenfurt reisen durfte, um für ihre Geschichte Vom Aufstehen den Ingeborg-Bachmann-Preis entgegenzunehmen, ist ein Juwel. 1980 hatte ihr das Regime das noch verboten, um den "Antikommunisten" Marcel Reich-Ranicki, der sie schon damals eingeladen hatte, nicht aufzuwerten. Als der Ruhm dann kam, hatte sie sich längst aus der Öffentlichkeit zurückgezogen, in einen Garten westlich der Oder unter Apfel- und Kirschbäume, mit dem geliebten Mann, der einst ihr Lehrer gewesen war und nun schon lange sehr krank war.

In ihrem preisgekrönten Bestseller, der wie die Titelerzählung Vom Aufstehen heißt, erzählt sie ihr Leben im Osten in 29 Geschichten, die von den Absurditäten des DDR-Alltags ebenso berichten wie von den vielfältigen Überlebensstrategien der Menschen, deren Leben vom "Moloch der Diktatur" überschattet war. Sie erzählt unter anderem eine Episode mit Friederike Mayröcker, die, auf ihrem Sofa in Ostberlin sitzend, sagte: "Keinen Tag könnte ich hier leben", worauf sie ihr nur lakonisch antwortet: "Ich auch nicht." Aber auch nach der Wiedervereinigung bleibt die DDR "wie eine Brandmarke bei einem Zuchtpferd – man hat sie lebenslang".

Der Erschöpfung zum Trotz

Das neue Buch erzählt da weiter, wo Vom Aufstehen aufgehört hat: Die Stunden der Pflege, der Liebe und der Gemeinsamkeit, kostbar auch durch die Natur außen, den nahen See mit dem Pflanzendschungel des Schwingmoores und im Zwischenreich des Wintergartens, kostbar auch durch die Erinnerung an die jahrzehntelangen Rituale der Liebe, von denen beide immer noch Spuren und Splitter abrufen können trotz der mitunter verkehrten Welt in seinem Kopf.

Der heutige Tag ist tatsächlich ein Buch, das die Stunden der Liebe nachzeichnet und nicht die Verwüstungen der Krankheit in den Mittelpunkt stellt wie andere Texte zu diesem Thema, die teils romantisieren wie Arno Geiger mit seinem Vaterbuch Der alte König in seinem Reich, teils grausame Verfallsprotokolle sind wie Der Vatermord von Tilman Jens oder Michael Buselmeiers Elisabeth. Immer wieder wird auch spürbar, wie sehr der Glaube diese beiden Menschen trägt, wie sehr sie eingebettet sind in die Kinderglaubensgewissheit: "Gott ist mit dir am Abend und am Morgen / Und ganz gewiss an jedem neuen Tag."

Samariterleben

Die Autorin selbst, das ungeliebte Kriegs- und Sonntagskind, das eigentlich hätte abgetrieben werden sollen, hat durch die Liebe, den Glauben, das Schreiben eine bewundernswerte Balance im Leben gefunden, die es ihr erlaubt, den 24-Stunden-Pflegedienst als Liebesdienst zu sehen, der eigenen Erschöpfung zum Trotz. Durch den Wintergarten weht immer ein Blütenduft und etwas vom Lieblingslied der Mutter: "Geh’ aus, mein Herz / und suche Freud’ ..."

Helga Schubert, "Der heutige Tag. Ein Stundenbuch der Liebe". € 24,70 / 272 Seiten. dtv, München 2023.
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Trotzdem ist ihr von Schlafmangel geprägtes "Samariterleben" nicht ohne Bitterkeit, wenn sie wie so oft niemanden findet, der sie auch nur einmal für zwei Stunden vertritt, wenn vor allem seine drei Kinder aus erster Ehe zu keiner entlastenden Geste bereit sind, erhalte sie doch Pflegegeld ... Sie hat sich ein inneres Verbot auferlegt, "über positive Folgen seines Todes nachzudenken", trotzdem sucht sie manchmal nachts im Internet eine kleine Wohnung für sich in Berlin.

Das Glück im Kleinen

Das Glück liegt im Kleinen: wenn sich in einem Einmachglas statt Champions Quittengelee findet. Der Mann, der einmal Bücher geschrieben und über 1300 Ölbilder gemalt hat, kann ihr nur noch selten Gefährte sein. Die Ölfarben sind vertrocknet, nur manchmal finden sie sich über einem Schubertlied, Gedichtzeilen von Jandl oder Liedzeilen von Reinhard Mey: "Lass nun ruhig los das Ruder ... / Nicht mehr kämpfen, ruhig schlafen ..."

Die Szenen, in denen ein Erkennen möglich ist, sind von besonderer Intensität, manchmal lässt sie Derden, wie er im "Stundenbuch" heißt, in die "heilige Zone der Todesnähe" ein. Der heutige Tag ist ein Buch, das auch uns zeigt, dass von dem, was bleibt, von Glaube, Liebe, Hoffnung, die Liebe die Größte ist. (Barbara Machui, 1.4.2023)