Jan Preisler: "Märchen (Pohádka)", 1902. Die Personifizierung gilt gemeinhin als Erzählerin von Zeyers "Radús und Mahulena".

Foto: Galerie der bildenden Kunst, Ostrava (GVUO)

RUNA: Radús! […] Sobald die Lippen einer andern Frau im Kuss dein Angesicht berührn, entfalte sich mein Fluch! Dann wirst du sie vergessen, deine Mahulena, nimmer wirst du sie erkennen, auch wenn du sie ständig ansehn solltest! Keine Spur von ihrem Dasein wird in deinem Geist zu finden sein! Die Wunde dieses Zaubers […] soll in deinem Herzen bluten, bis sich dein Verstand vor Bitternis vernebelt! Oh! Mein Fluch steht fest wie das Gebirg der Tatra! Erde, unsre Mutter, du hast mich erhört – ich fühle, wie du bebst!

MAHULENA (stürzt zur Erde und küsst sie): So wie ich dich küsse, Mutter Erde, hab Erbarmen du, hab Mitleid du mit mir! Du bist nicht eine Mutter, die verflucht, nein, du bist eine Mutter voll der Zärtlichkeit. Den Fluch hast du gehört, doch hörst du auch dein Kind, das weint!

Im Sommerhaus meiner Großeltern hing eine Kopie des Gemäldes Märchen von Jan Preisler. Unter diesem Bild wurden die Gutenachtgeschichten meiner Großmutter zum Traum. Als großer Bub habe ich sie alle nachgelesen, nur von Radús und Mahulena wollte ich nichts wissen: Ich hatte Angst vor dem Ende. Prinz Radús zieht es in die Wälder des verfeindeten Königreichs der Hohen Tatra. Eines Tages erlegt er dort einen weißen Hirsch. Das schlechte Gewissen hetzt ihn zu einer Lichtung, wo zwei Prinzessinnen zwei Hirsche streicheln, aber die dritte und schönste hat keinen. Das ist Mahulena. Radús wird gefasst und von Mahulenas zauberkundiger Mutter Runa an einen Felsen gekettet. Mahulena rettet ihn, sie fliehen. Doch Runa ruft ihnen einen Fluch nach: Radús soll Mahulena auf ewig vergessen, sobald ihn eine andere Frau küsst. Zu Hause küsst ihn seine Mutter.

Baum-Liebe

Mit einem Schlag weiß Radús von Mahulena nichts mehr und verstößt sie. Mahulena verwandelt sich in eine Pappel, und Radús liebt von da an einen Baum, ohne zu wissen warum. Das findet seine Mutter verdächtig. Da niemand die Pappel fällen will, fasst sie selbst die Axt, um ihren Sohn zu schützen, holt aus, Radús stellt sich ihr in den Weg, sie schlägt zu, Blut schießt durch die Rinde hervor … und da gingen die Fassungen meiner Großmutter auseinander. Überlebt Mahulena oder nicht?

Als ich es mit 17 Jahren endlich wagte, Zeyers Stück Radús und Mahulena zu lesen, das mit der Bühnenmusik von Josef Suk im Jahr 1898 am Prager Nationaltheater uraufgeführt worden ist, weinte ich schon im ersten Akt. Zeyers Sprache ist so schön, das Schicksal so hart, die Frauen sind, auch körperlich, extrem stark. Mahulena ist fremd wie Medea, die verbotene Liebe erinnert an Romeo und Julia, aber alles ist märchenhafter.

Mir war klar, dass ich Zeyer ins Deutsche übersetzen musste, aber bis ich es tat, sollten 20 Jahre vergehen. Radús und Mahulena ist ein dramatisches Gedicht in fast durchgehenden Jamben, die für extremes Pathos sorgen. Und Pathos ist eine Gratwanderung, bei der jedes falsche Wort zum Absturz führt. In Tschechien ist das Stück bis heute sehr populär – auch die Verfilmung von Petr Weigl, die Gemälde Jan Preislers nachstellt.

Kosmopolitische Literatur

Julius Zeyer entstammte einer Prager französisch-deutsch-jüdisch-böhmischen Familie. Er reiste viel und studierte fremde Kulturen in der Bibliothek von Vojta Náprstek. (Náprstek war Freund der Dakota-Indianer und Gründer eines feministischen Damenklubs: ein Vorbild. Das Náprstek-Museum ist ein Abenteurerparadies.)

Zeyers Ambition lag darin, eine tschechische Literatur mit kosmopolitischem Fundament zu etablieren. Er schrieb Romane nach asiatischen Vorbildern und große Epen zur tschechischen Mythologie. Sein Ritterroman Amis und Amile gehört außerdem zum tschechischen Kanon der homosexuellen Literatur.

Julius Zeyer, "Radús und Mahulena. Ein slowakisches Märchen" ("Radúz a Mahulena)". Die Übersetzung aus dem Tschechischen und das Nachwort stammen von Ondřej Cikán. € 20,– / 128 Seiten. Kétos, Wien 2023.

"Wahrheit und Liebe müssen siegen über Lüge und Hass"

Zeyer schrieb Radús und Mahulena nach slowakischen und indischen Quellen auch aus Solidarität mit der Slowakei, deren Unterdrückung für die Tschechen ein brennendes Thema war. Auf seinen Reisen ins Russische Zarenreich interessierte er sich besonders für Tataren, Ukrainer, Juden. Er sympathisierte mit russischen Anarchisten und hoffte, dass ein neues Russland Europa erlösen könnte. Das war naiv, Zeyer ahnte es. Umso mehr dachte ich beim Übersetzen an die von Russland überfallene Ukraine.

"Wahrheit und Liebe müssen siegen über Lüge und Hass", hat Václav Havel gesagt. Bei Zeyer klingt das so: "Ich liebe dich, hörst du?" – Das ist die Wahrheit. Zweifel können gefährlich sein.(Ondrej Cikán, 2.4.2023)