Über die kleinen Gesten der Außenwelt, die imstande sind, die inneren Kräfte zu mobilisieren: Carolina Schutti.

Foto: Simon Rainer

Die 1976 in Innsbruck geborene Schriftstellerin Carolina Schutti hat in den vergangenen drei Jahren zwei vielbeachtete Romane vorgelegt: Patagonien und Der Himmel ist ein kleiner Kreis. Nun präsentiert sie ihr neuestes Werk, das den Titel Meeresbrise trägt, auch auf der Leipziger Buchmesse. Österreich ist dort heuer Gastland unter dem Motto "mea ois wia mia". Schuttis literarisches Programm passt zu diesem Leitsatz, denn Fragen nach der eigenen Existenz und Identität ziehen sich leitmotivisch durch ihr schriftstellerisches Werk.

Immer wieder setzt Schutti ihre Figuren in einem Nirgendwo aus, um damit psychologische Grenzerfahrungen literarisch zu erforschen. In ihrem neuen, gesellschaftskritischen Roman erzählt Schutti von zwei kleinen Mädchen, die vaterlos von einer emotional labilen Mutter in der Enge eines kleinen Dorfes großgezogen werden.

Frage der Herkunft

Kälte, Ausgrenzung und Isolation bestimmen den Alltag der Geschwister. Sprachlich virtuos zeigt Schutti, wie instabil die Welt für Kinder wird, wenn ihre einzige Bezugsperson sich widersprüchlich verhält, etwa wenn sich zu Prügel und Vernachlässigung manchmal auch Wärme und Zuwendung mischen, um den Schein einer heilen Familie nach außen hin zu wahren. Mit ihrer Themenwahl reiht sich Schutti in den Kanon der österreichischen Gegenwartsliteratur ein, in der die Fragen der Herkunft wiederkehrend auf beklemmende Weise abgehandelt werden.

Es ist kein Zufall, dass auch Märchen in diesem Roman eine zentrale Rolle spielen. Die Mutter erzählt ihren beiden Mädchen nicht nur jenes von der eingesperrten Rapunzel, sondern dehnt die Märchenerzählung auch auf die Herkunft ihrer Kinder aus, um schmerzhaften Wahrheiten auszuweichen. Damit offenbart sich, was mit der Psyche von Kindern geschieht, wenn eine verzweifelte Mutter ihre Kinder isoliert, ihnen Misstrauen einimpft, sie mit Lebenslügen konfrontiert – aus Angst, sie zu verlieren.

Ein besonderes Merkmal von Carolina Schuttis Romanen ist ihre überraschende Kürze – kaum ein Text umfasst mehr als hundert Seiten, und trotzdem werden große Themen nicht an der Oberfläche behandelt, im Gegenteil, ihre Romane brauchen keine epische Breite. Mit reduzierter lyrischer Eleganz bewegt sich Schutti stets auf ein seelisches Epizentrum zu, gibt dem Unausgesprochenen Raum, benennt Emotionen, ohne dabei jemals ins Sentimentale abzudriften.

Seelenkälte

So beschreibt eines der Mädchen, das auch als Ich-Erzählerin fungiert, an einer Stelle: "Ich sehe Mitleid in den Augen der Lehrerin, für kurze, winzigkurze Zeit, dann drückt sie ihre Hand auf meinen Mund, als wollte sie die Worte zurückschieben, mir kommen sofort die Tränen."

In ihren vorhergehenden Texten verortet Schutti ihre Figuren in einer eiskalten, lebensfeindlichen Naturlandschaft. In ihrem aktuellen Roman verhält es sich anders. Die Kälte bleibt zwar ein zentrales Motiv, ist aber kein von der Natur vorgegebener Zustand. Sie ist unsichtbar in die Seele der Mutter gekrochen. Für die Kinder stellt diese Mutter eine unberechenbare märchenhafte Königin dar, in Wahrheit ist sie jedoch eine vom Sozialamt kontrollierte, verzweifelte Frau. Unweigerlich fragt man sich: Wo ist die Sanftheit geblieben, die der Titel Meeresbrise verheißt? Meeresbrise ist in diesem Roman eine parfümierte Seife, mit der sich die kleinen Mädchen in eine sonnige Sehnsuchtslandschaft retten, die sie aber noch nie gesehen haben, die nur in ihrer Vorstellung existiert. In der Schule lernen die Kinder, wie wunderschön die Sonne über dem Meer aufgeht, doch die Mutter tötet ihre Begeisterung gnadenlos, sieht sie im Meer doch "nur schmutziges Wasser, das man nicht trinken darf".

Carolina Schutti, "Meeresbrise". € 21,– / 120 Seiten. Droschl, Graz 2023.
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Angespannte Beziehungen

Dies ist eine Schlüsselszene, in der das destruktive Beziehungsgeflecht ans Tageslicht tritt. Es scheint, als würden die Kinder sich in den Untiefen eines Meeres bewegen, in denen Düsternis und Kälte die einzig vorherrschenden Kräfte sind. Dadurch baut sich aber auch Spannung auf, man fragt sich, ob es den Mädchen gelingen wird, aus der Dunkelheit aufzutauchen, um an das Licht der Meeresoberfläche zu gelangen.

Die Suche nach Erkenntnis treibt die isolierten Kinder unablässig an. Ein Tor zur Welt ist ein Kinderlexikon, darin sucht die Ich-Erzählerin vergeblich nach dem, was ihr im Leben fehlt, aber selbst im Lexikon ist das Wort "Vater" nicht zu finden. In einer rührenden Szene flickt das Kind das Wort "Vater" ein. Wie langwierig die Prozesse der Erkenntnis sind, wie mühsam das Herauslösen von missbräuchlichen familiären Beziehungsverhältnissen, wird in diesem Roman brillant zur Sprache gebracht. Und die akribische Sprachkünstlerin Carolina Schutti hat darüber hinaus einen zeitgemäßen Roman über das Hinsehen geschrieben, der auch davon erzählt, dass selbst kleinste Gesten der Außenwelt dazu imstande sind, die inneren Kräfte von Betroffenen zu mobilisieren. (Gerlinde Tamerl, 2.4.2023)