Führungsschwäche als Grund für die leeren Reihen bei Selenskyjs Rede im Parlament?

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Wolodymyr Selenskyj hat im Nationalrat eine wichtige Rede gehalten. Sie wäre eine gute Gelegenheit gewesen, sich mit dem Krieg im östlichen Nachbarland und der Frage, wie die Republik Österreich sich dazu verhalten will und soll, substanziell auseinanderzusetzen. Dazu ist es jedoch nicht gekommen.

Die Rede von Wolodymyr Selenskyj beginnt bei Minute 5:40
DER STANDARD

Dafür sorgte nicht nur die FPÖ, die den Auftritt des ukrainischen Präsidenten ganz gezielt durch Auszug aus dem Parlament torpedierte. Parteichef Herbert Kickl hatte den Eklat lange angekündigt. Die Freiheitlichen bewegen sich in Sachen Ukrainekrieg und vorgeblich "neutrale Haltung" ganz auf der Linie ihrer extrem rechten Fraktionsfreunde in Europa, voran die AfD (Alternative für Deutschland) in Deutschland.

Sie verbreiten ungeniert Wladimir Putins Kriegspropaganda. Sie sind – wie auch radikale Linke in Europa – gegen EU-Sanktionen und Unterstützung für Kiew, trampeln mit Füßen auf Völkerrecht und den Menschen in der Ukraine herum.

Erwartbare Reaktion

Von der FPÖ war das zu erwarten. Völlig überraschend war hingegen, wie ungeniert die SPÖ im Parlament eine zweifelhafte Position – oder sollte man sagen: Nicht-Position – zum russischen Eroberungskrieg und zur Ukraine auslebte. Wenn mehr als die Hälfte der Abgeordneten der SPÖ-Fraktion den Selenskyj-Auftritt durch Abwesenheit boykottieren, kann man nicht von Zufall sprechen.

Die Sozialdemokraten haben damit einen außen- und europapolitischen Offenbarungseid geleistet. Hinterher wurde erklärt, das sei "passiert", unter anderem wegen "Führungsschwäche" und weil Partei- und Klubchefin Pamela Rendi-Wagner wegen einer Erkältung nicht im Parlament erscheinen konnte.

Das mag glauben, wer will. Faktum ist, dass die Parteichefin schon vor der Rede Selenskyjs keinerlei Erklärung abgegeben hatte. Die Entschuldigung mit der Krankheit wurde nachgeschoben. So etwas darf einer Partei, die den Regierungsanspruch stellt, nicht passieren. Die SPÖ wirkt kopflos, gespalten und zerrissen.

Keine Neutralität bei Grundwerten

Und was noch schlimmer ist: Sie verließ damit ohne jede Not mehr als nur symbolisch die gemeinsame Linie, die die europäischen Sozialdemokraten in Sachen Ukrainekrieg bisher ohne Ausnahme vertreten haben. So wie alle seriösen Parteien, die sich zu Demokratie, internationalem Recht, Freiheit und Rechtsstaat bekennen, stehen sie im Krieg moralisch und materiell aufseiten der Ukraine. Bei Grundwerten darf es auch keine Neutralität geben.

Es gilt auch, was der burgenländische SPÖ-Landeshauptmann Hans Peter Doskozil in der "ZiB 2" am Donnerstag dazu sagte: Die Rede des ukrainischen Präsidenten müssten Abgeordnete sich jedenfalls anhören, auch wenn sie mit manchem nicht einverstanden wären.

Elf Minuten Dankbarkeit

Diese Gefahr bestand aber ohnehin nicht. Selenskyjs Rede war kurz, präzise, nüchtern, ohne Bitterkeit. Elf Minuten. Der ukrainische Präsident konzentrierte sich ganz auf die für die Ukraine und Österreich entscheidenden Aspekte im russischen Eroberungskrieg gegen sein Land: Humanität, Hilfe für Menschen, Retten von Leben, auch auf Sicherheit, Freiheit und die Bewahrung der Menschenrechte. Nichts Militärisches.

Auf der anderen Seite schilderte er ungeschminkt, welche Grausamkeiten, welches Leid dieser "wahnsinnige Krieg", der Bruch des Völkerrechts und Kriegsverbrechen für einfache Leute in der Ukraine bedeuten. Auf einer Fläche doppelt so groß wie Österreich seien Minen und Granaten vergraben, die Russen bauten Sprengfallen in zurückgelassenen Häusern und Waschmaschinen ein.

Es war eine Rede der anderen Art an die österreichische Nation. Elf Minuten voller Dankbarkeit für das, was die Bevölkerung, Nachbar in Not oder auch die Bundesregierung für die Ukraine in einem Jahr Krieg an Hilfen für die Ukrainerinnen und Ukrainer geleistet haben. Nicht zufällig bedankte er sich gleich im ersten Satz bei den Landeshauptstädten Wien, Graz und Linz. Durch die Hilfe der Spitäler dort seien Menschenleben gerettet worden.

Behutsame Rhetorik

Über all das hätte man im Land, im Parlament wie an den Stammtischen, nach dem Auftritt breit und in Ruhe diskutieren können und sollen. Denn Selenskyj sprach die Dinge behutsam an. Wladimir Putin nannte er mit keinem Wort. Ganz anders als bei seinem Auftritt in London im Februar sprach er nicht über militärische Hilfe, Waffen und das heikle Thema der österreichischen Neutralität. Er sagte dazu nur, wie wichtig es sei, "gegenüber dem Bösen nicht neutral zu sein".

In Paris war es bei einem Auftritt mit Präsident Emmanuel Macron vor allem darum gegangen, wie die Ukraine militärisch "den Krieg gewinnen" könne, wie Verhandlungen zum Frieden ausschauen könnten.

Und bei Selenskyjs umjubeltem Auftritt im Europäischen Parlament in Brüssel standen vor allem die Fundamente im Mittelpunkt, die die Gemeinschaft ausmachen, um die auch in der Ukraine gekämpft werde: Demokratie, Grundfreiheiten, die Werte der Union und die Grundrechtecharta, Rechtsstaatlichkeit, Frieden. Rote, schwarze, gelbe, grüne, pinke Mandatare erhoben sich zu langen Standing Ovations.

Kaum Auseinandersetzung in Österreich

In ganz Europa wurden die Auftritte des ukrainischen Präsidenten in diversen Parlamenten dementsprechend intensiv inhaltlich und substanziell debattiert, der Freiheitswille und der Mut der Menschen in der Ukraine gewürdigt, in konstruktiver Auseinandersetzung. Nicht so in Österreich. Hierzulande sorgte bis in die TV-Hauptnachrichten des ORF hinein vor allem für Schlagzeilen, wie und warum die FPÖ und auch die SPÖ den Auftritt Selenskyjs im Nationalrat brüskierten und/oder boykottierten. Was für eine Peinlichkeit. Politisch unverantwortlich. Es ist dies nicht zuletzt Ausdruck dafür, wie sehr die politische Polarisierung im Land bereits fortgeschritten ist.

Man könnte auch sagen: wie sehr die im Parlament vertretenen Parteien den Freiheitlichen und ihrem billigen Rechtspopulismus ständig auf den Leim gehen. (Thomas Mayer, 31.3.2023)