Wenn die Kirchen zu Mittag ihre Glocken läuten, gedenken sie auch der Kanonen. Sie rufen nicht nur zur geistlichen und leiblichen Einkehr. Sie erzählen auch eine lange zurückliegende Geschichte von höchster Gefahr und glücklicher Errettung aus ihr. Eine Geschichte von Heldenmut und Rittertugend ist es. Sie spielt in der Mitte des 15. Jahrhunderts. Da hingen die Menschen noch weitgehend in den Sinnzusammenhängen des Mittelalters. Und darum singen uns die Mittagsglocken, so wie es das Lied der Nibelungen tut, von "küener recken strîten".

Der Siegfried, von dem die Glocken künden, trägt den Namen János Hunyadi. Er war ein schon zu Lebzeiten legendenumrankter Heerführer. Jener Feldherr, der im Jahr 1456 dem sieggewohnten osmanischen Heer die erste große Niederlage bescherte. Einige Siege, bei Smederevo 1441 und Sofia 1443, hatte er bereits erringen können. Einige bittere Niederlagen hatte er schon erleiden müssen: 1444 die Schlacht bei Warna, 1448 die zweite Schlacht auf dem Kosovo Polje, dem Amselfeld. Und nun zog eine kriegserprobte und belagerungserfahrene türkische Armee nordwärts an die Donau. Gegen Belgrad; auf Ungarisch Nándorfehérvár; Griechisch Weißenburg auf Deutsch.

Schlachtgemenge am Fuß der griechischen Weißenburg, wie man Belgrad einst auch genannt hat. 1456 wurde hier dem an Siege gewöhnten osmanischen Heer die erste schwere Niederlage zugefügt. Daran erinnert bis heute das christkatholische Mittagsläuten.
Foto: ÖNB-Bildarchiv / A. Bogner

Jene gewaltige Armee war das, die drei Jahre zuvor, am 29. Mai 1453, die für unüberwindbar gehaltenen Mauern von Konstantinopel überwunden hatte. Seither nannte man den Sultan Mehmed II., der dem tausendjährigen oströmischen Reich endgültig den Garaus gemacht hatte, Fatih; den Eroberer. Den Namen trug er wie ein Programm. Würde Nándorfehérvár fallen, stünde der damals modernsten Armee der Welt der Weg ins Herz Europas offen.

Unschlüssiges Europa

Europa aber war, was es immer gewesen ist und wohl immer sein wird, solange es Europa ist: unschlüssig und uneins selbst in höchster Gefahr. Man führte Krieg untereinander. Thronwirren zerrissen auch das Ungarland, der Hussitenkrieg zerschlug die böhmischen Lande. Der Papst musste zusehen. Divisionen – noch Stalin stellte im 20. Jahrhundert höhnisch die Frage danach – hatte er keine. Seit 1455 hieß der Mann auf dem Thron Petri Calixtus III. Er kam von der Iberischen Halbinsel, war sozusagen Reconquista-gestählt. Als die Türken schon vor Belgrad lagen, am 29. Juni 1456, erließ er, verzweifelt, eine Bulle. Darin ordnete er an, dass alle Kirchen nun zu Mittag verlässlich läuten mögen, um Gottes Segen herabzuflehen auf die Stadt am Zusammenfluss der Donau und der Save.

Und siehe: Das Wunder geschah. Am 22. Juli. Die Mauern waren beinahe schon gebrochen, die nur 4000 Mann schwache Besatzung schien verloren. Doch Hundyadis Entsatzheer griff rechtzeitig an. Die osmanische Donauflotte war im Handstreich schon vernichtet worden. Die Osmanen wurden in eine Hals-über-Kopf-Flucht geschlagen; der Sultan selbst wurde verwundet. Am 6. August erreichte die Siegesnachricht Rom. Der Papst wandelte, Hunyadis Tat wie selbstverständlich als Zeichen des Himmels nehmend, das Bittläuten um ins Dankläuten. In manchen Gegenden wird es immer noch "Türkenläuten" genannt.

Und seither erklingen die christlich-katholischen Glocken zur Mittagszeit. Alle Tage, bis auf zwei im Jahr. Denn da weilen sie, wie man weiß, in Rom, um dort ihr Läutgelübde zu erneuern. Am Karfreitag und am Karsamstag rufen an ihrer statt die Ratschenkinder: "Wir ratschen, wir ratschen zum englischen Gruaß / weil jeder katholisch’ Christ beten geh’n muaß / fallts nieder, fallts nieder auf eichare Knia / bets a Vaterunser und drei Avemaria!"

Ziehsohn des Kaiser-Königs

Johann Hunyadi – die Ungarn nennen ihn Hunyadi János, die Rumänen Ioan de Hunedoara, die Serben nach dem siebenbürgischen Hermannstadt / Nagyszeben / Sibiu Sibinjanin Janko – ist eine Inkarnation südosteuropäischer Multinationalität. Paul Lendvai, der versierte Erklärer ungarischen So-Seins, beschreibt Hunyadi als "eine der schillerndsten und rätselhaftesten, zugleich anziehendsten und beliebtesten" Gestalten der ungarischen Geschichte. Zu deren Eigentümlichkeit zähle es, "dass in den schicksalhaften Momenten Feldherren, Staatsmänner oder Dichter in Erscheinung treten, deren ‚Stammbaum‘ und Werdegang sich in keiner Weise für nationalistische, geschweige denn rassistische Theorien eignen". Aus lauter diesbezüglicher Not dichtete der Volksmythos Hunyadi zu einem illegitimen Sohn des Luxemburger Kaisers Sigismund um, der ja auch ungarischer und böhmischer und kroatischer König gewesen ist.

Sein leiblicher Vater dürfte aber doch ein gewisser Vojk gewesen sein. Ein kleiner Adeliger aus der Walachei, ein Rumäne oder Slawe. König Zsigmond belehnte ihn mit einem kleinen Gut in Transsilvanien. Dessen Namen trug er dann: Hunyad oder, rumänisch, Hunedoara. Dort kam János oder Janko oder Johann 1407 zur Welt. Dem Kaiser-König aber war er tatsächlich fast wie ein Ziehsohn. Früh holte er ihn an seinen Hof nach Prag, nahm ihn mit auf Feldzüge und politische Reisen. Hunyadi wurde gewissermaßen Flügeladjutant des Kaisers.

Steile Karriere

Die Thronnähe blieb auch bei Albrecht, dem ersten Habsburger unter der Stephanskrone, und dem polnischen Jagiellonen Władysław. Nach dessen Tod 1444 wurde der Flügeladjutant gar Reichsverweser des unmündigen Ladislaus Postumus, der sich in der Obhut beziehungsweise Geiselhaft von Kaiser Friedrich III. in Wiener Neustadt befand. In all den Jahren der Thronnähe wurde aus dem kleinen, transsilvanischen Edelmann einer der reichsten Grundherren des Ungarlandes. Heute würde man sagen: Johann Hunyadi war ein Oligarch.

Nach seinem Sieg über die Osmanen wäre er auch ein ernsthafter Konkurrent um die Throne Mitteleuropas und damit auch die deutsche Königswürde und also auf dem Weg zum römischen Kaiser gewesen. Aber wie das so ist mit der Gnade Gottes: Die ist unzuverlässig. Noch im Heerlager bei Belgrad erwischte ihn die Pest, der Johann Hunyadi am 11. August 1456 erlag.

Seine entscheidende Tat hatte Hunyadi ja schon vollbracht: Der Expansionsdrang der Osmanen erlahmte für immerhin 70 Jahre. Erst 1526 brach bei Mohács die Katastrophe übers Ungarland herein. Und drei Jahre danach stand Süleyman der Prächtige vor Wien.

Ritter János wacht in bronzener Treue auf dem Budapester Heldenplatz.
Foto: Imago

Hall of Fame

Hunyadis Papst, Calixtus III., entstammte der Familie der Borjas. Unter dem italienisierten Namen Borgia erwarb sich diese Familie einen bis heute fast sprichwörtlichen Ruf. Calixtus war der Onkel des diesbezüglich herausragenden Alexander VI., der bis heute das Bild des ausschweifenden, nepotistischen Kirchenfürsten prägt. Seine Tochter war Lucrezia, die den väterlichen Ruf ums Weibliche ergänzt. Man kann sagen, die beste Nachred’ hatten die Borgias nicht.

Im Gegensatz zu den Hunyadis. Noch vor 160 Jahren, am 28. Februar 1863, nahm Kaiser Franz Joseph den Hunyadi János auf in die Hall of Fame "der zur immerwährenden Nacheiferung würdigen Kriegsfürsten und Feldherren Österreichs". Und so steht er heute noch in der Feldherrenhalle des Heeresgeschichtlichen Museums.

Noch berühmter, im habsburgischen Gedächtnis freilich nicht ganz so beliebt war des János Sohn Mátjás, der sich nach dem Raben im Familienwappen "Corvinus" nannte. Er war ungarischer, böhmischer, kroatischer König und Herzog von Österreich. Alles war bereitet für den Schritt zur Kaiserwürde. Aber der Herrgott! Matthias Corvinus starb mit 47 Jahren 1490 in Wien.

Postmoderne Burg

1896 feierte das Ungarland sein Millennium. Aus diesem Anlass baute man im Budapester Stadtwäldchen, dem Városliget, eine merkwürdig postmoderne, aus historischen Vorbildern zitierende Burg. Vajdahunyad vár nannte man das Bauwerk bald, so wie die Burg im heute rumänischen Hunedoara. Sie steht auf einer Insel inmitten eines flachen Teiches; im Winter ein riesiger Eislaufplatz. In den 1970er-Jahren lernte hier ein Mädchen das Eislaufen, das später ganz Österreich viel, viel Freude bereitete: Emese Hunyady, die walzertanzende Olympiasiegerin im Eisschnelllauf. (Wolfgang Weisgram, 6.4.2023)