Nach neun Jahren Salzburger Serienmeisterschaft scheint es kaum denkbar, doch in Graz denkt man an den Titel.

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Sturm Graz schwebt in einer Zwischenwelt. Mastermind Andreas Schicker und die eierlegende Taktiker-Motivationstrainer-Philosophen-Wollmilchsau Christian Ilzer haben aus dem bitterharten Granit von Österreichs Fußballrealität einen Raum gehauen, den seit der Austria-Meistersaison 2013 nur mehr der LASK 2019 eine Herbstsaison lang erblickte. Die Blackies sind allen Ernstes gut genug, den Eh-immer-Meister aus Salzburg zu fordern, aber, und das ist erwiesenermaßen ein Nachteil, sie sind eben nicht Salzburg.

"Wer keine Vorstellungskraft von ganz Großem hat, limitiert sich selbst. Die Vorstellungskraft, die Träume können gar nicht groß genug sein, die können dich inspirieren und antreiben", sagte Ilzer nach dem 3:1-Sieg gegen Rapid Wien. Sturm hatte das erste Zehntel der Meistergruppe bewältigt, nicht nur der Blackies-Trainer hatte ein "sehr intensives Spiel" gesehen. "Wir waren in der Qualität der Torchancen das bessere Team", sagte Ilzer, der Sieg sei deshalb verdient gewesen. Auch mit dieser Meinung war der 45-Jährige gewiss nicht allein.

Eigene Liga

Aber es geht für Sturm eben nicht mehr nur darum, vor den Wiener Klubs und dem LASK zu bleiben. Dass Ilzer es nun wagt, von Träumen zu sprechen, hat mit dem Dasein in der Zwischenwelt zu tun. Der Vizemeister ist der Nicht-Salzburger Konkurrenz enteilt: Der Kader ist breiter und in den Spitzen hochwertiger, nach einem Alexander Prass würden sich die anderen Traditionsklubs alle zehn Finger abschlecken. Die Mannschaft tritt nach fast drei Jahren unter Ilzer geschlossen auf, kann auch Ausfälle wie jüngst von Gregory Wüthrich einigermaßen kompensieren. Trainer und Assistenzstab müssen angesichts des bisher Erreichten über ihren Wiener Pendants einsortiert werden. Sturm hat 15 von 23 Spielen gewonnen und bei sechs Remis nur zweimal verloren; mit diesen Werten ist man anderswo praktisch Meister.

Christian Ilzers Trainerkarriere ist eine nur von einem verpatzten Jahr bei der Austria unterbrochene Erfolgsstory.
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Aber: Salzburg. Die Bilanz der Bullen aus den bisherigen vier Meistergruppen und dem Auftakt der heurigen Ausgabe in Klagenfurt (3:0) ist schlicht furchterregend. Von 41 Spielen nach der Teilung gingen 33 an den Serienmeister, Niederlagen gab es trotz zahlreicher Spiele nach längst fixiertem Meistertitel nur drei. Also sagte Ilzer nach aller Träumerei: "Im Endeffekt musst du zurück zur Realität kommen. Und die heißt, Woche für Woche deinen Beitrag zu liefern, dass wir die nächste anstehende Aufgabe top erledigen." Kriege man das hin, habe man "eine gute Chance, unser Potenzial maximal auszureizen. Wenn es dann einen Gegner gibt, der trotzdem besser ist, muss man ihnen einfach gratulieren." Das ist die Crux der Zwischenwelt: Auch bei Höchstleistungen kann am Ende nur der Trostpreis bleiben, so überlegen ist der Goliath im Normalzustand.

Perfektion ist Pflicht

Drei Punkte fehlen Sturm derzeit auf Salzburg, am 23. April kommt der Tabellenführer nach Graz. Um ein ernsthaftes Titelrennen in den Mai zu tragen, muss der Herausforderer wohl Siege am Fließband produzieren. Dass das zumindest theoretisch denkbar ist, liegt an Qualitäten, die auch gegen Rapid entscheidend waren. Zum einen die herausragende Intensität, die wohl auch eine Rolle bei den zwei toreinleitenden Fehlpässen der Grün-Weißen spielte. "Unsere Herangehensweise ist, dass wir versuchen, jede einzelne Phase extrem zu beschleunigen und dadurch auch beim Gegner extrem hohen Stress auszuüben", sagte Ilzer. "Er muss permanent bereit und online sein. Wenn du im Kopf nie eine Ruhe bekommst, ist natürlich die Folge, dass du fehleranfälliger wirst."

Otar Kiteishvili traf acht Minuten nach seiner Einwechslung.
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Nach unzähligen überstanden Verletzungen erweist sich auch Sturms Bank immer mehr als, nun ja, Bank. Fanliebling Otar Kiteishvili war gerade einmal warmgelaufen, als er das 3:1 schoss. Trotz des Mangels an zu verteilenden Minuten – auch Bryan Teixeira und Amadou Dante kamen nur von der Bank – scheinen in Graz alle an einem Strang zu ziehen. Auch dank der Verletzungsrückkehrer, die sich beweisen müssten, habe man eine "enorme Trainingsqualität. Das ist die Basis für gute Spiele." Und sie ist wohl auch für die teils eindrucksvollen Leistungssprünge einzelner Kicker mitverantwortlich – gegen Rapid fiel David Schnegg mit seiner besten Partie im Sturm-Dress auf.

Sturms Gedächtnis

Pressekonferenzen nach Bundesligaspielen sind selten besonders interessante Angelegenheiten. Jedes Spiel war das erwartet schwere Spiel, ob es nun 2:1 oder 4:0 geendet hat. Man hat sich gut auf den Gegner vorbereitet, eh schon wissen. Am Palmsonntag gewährte Ilzer in dem unseligen Rahmen aber durchaus interessante Einblicke. Auf sein Luxusproblem der starken Ersatzbank angesprochen, holte er aus: "Jeder einzelne Spieler muss verstehen, dass Egoismus im Sport eine Rolle hat, der bringt einen in eine gewisse Position, aber es geht dann trotzdem um etwas Größeres. Wir sind alle Teile eines Traditionsvereins. Ein Traditionsverein hat ein Gedächtnis, das über uns hinausgeht."

Man kann sich vorstellen, dass Ilzer diesen Ansatz schon in ähnlicher Version in der Kabine kredenzt hatte. Ein bisschen Hollywood: "Wir haben das Privileg, dass wir Geschichte in einem Traditionsverein schreiben können, die keiner so schnell vergisst. Das ist größer als jeder Einzelne." Gebe jeder alles für die Sache", dann werden wir am Ende sehr gute Möglichkeiten haben, diese Träume realisieren zu können." Diese Träume, das ist natürlich auch die Meisterschaft, ja sogar das Double. Am Donnerstag gastiert der LASK im Cup-Halbfinale in Graz-Liebenau. Auch diese Partie ist ausverkauft. Christian Ilzer ist nicht der einzige Steirer, der von Großem träumt. (Martin Schauhuber, 3.4.2023)