A. L. Kennedy, gebürtige Schottin, schildert den unerklärten Krieg der Brexit-Profiteure gegen den Rest der Gesellschaft.

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Kaum ein anderer Charakter der Gegenwart wird verächtlicher angesehen als der Gutmensch. An ihm, der angeblichen Naivität seiner Gesinnung, erprobt eine Gesellschaft von Raubtieren bevorzugt die Reißzähne. Ein solches besonders wundgebissenes Exemplar ist die Grundschullehrerin Anna. Mit nicht erlahmender Geschäftigkeit hält sie die Fünftklässler der Londoner Oakwood School bei Laune. Es herrscht Pandemie. Die Stabilität der Kinder leidet, weil viele ihrer Angehörigen, besonders die alten, erst an Schläuchen hängen, um schließlich für immer zu verschwinden.

Anna winkt den Kindern via Zoom. Ihr Grinsen ist zur Maske erstarrt. Ihr nicht besonders systematisch geführtes Corona-Tagebuch bildet die Grundlage von A. L. Kennedys neuem Roman. Dieser trägt den umständlichen Titel Als lebten wir in einem barmherzigen Land: So hätte man womöglich eine Hemingway-Titelzeile anno 1950 ins Nierentisch-Deutsch übertragen.

Der Titel passt allerdings wie der Klecks Clotted Cream auf ein Scone. Anna, der ausgenützte Gutmensch, hält sich hinter einem wahren Hadrianswall aus Wehmut verborgen. Ihr Sohn Paul, mit dem sie ein Eigenheim in eigentlich unerschwinglicher Londoner Zentrallage bewohnt, wird zum Zeugen ihres Niedergangs, eines drohenden Persönlichkeitsverlusts in den Zeiten von Covid und leeren Supermarktregalen: "Mama, du trägst Flipflops, Unterhose und deine Backschürze. Du hast dein Ziel erreicht. Exzentrisch."

So lautet die bitterste Erkenntnis, die A. L. Kennedy (57) für ihre Leserschaft bereithält: Anderssein ist in einer entsolidarisierten Gesellschaft wie der von den Tories zugrundegerichteten zu nichts nütze. Früher einmal pries man das Vereinigte Königreich für die Exzentrik seiner Privatleute. Durch störrische Marotten wurde die Unbarmherzigkeit der Klassengesellschaft abgemildert. Man half einander, als Margaret Thatcher die Kohlengruben schließen ließ, Streikende vor berittener Polizei Reißaus nahmen.

Demonstranten von einst

In diesen finsteren Zeiten gedieh Annas Gutmenschentum zu besonderer Blüte: indem sie mit einer Gruppe Gleichgesinnter – man würde heute sagen: "Alternativer" – von Ausstand zu Ausstand zog und zum Lärm von Membrantrommeln herzerfrischendes Straßentheater spielte. Im "UnRule OrKestrA" waren einst alle Hoffnungen auf ein menschenfreundliches Miteinander enthalten. Jetzt sind sie vergessen. Es sei denn, die Gerichtsbarkeit in Post-Brexit-Britannien entsinnt sich alter Verfehlungen. Dann zerrt sie Demonstranten von einst vor den Kadi.

Kennedy vermag Darbietungen wie die der Kommunarden mit ansteckendem Enthusiasmus zu beschreiben. Dabei hallen in Annas bzw. "Annanka Ladystrongs" Kopf vor allem Selbstbezichtigungen wider. Ihr bester Spielpartner, eine Karnevalsfigur von erlesenem Geschmack, war V-Mann der "Metropolitan Police". Mit Fortdauer der Erzählung übernimmt dieser Mann ohne Konturen das Szepter: Er wird, nach Jahrzehnten verdeckter Tätigkeit als zersetzendes Element und staatlicher Killer, von Anna wiedererkannt. Von ihr durch London gehetzt. Gestellt. Seiner Nichtswürdigkeit überführt. Aber womöglich führt Kennedy ihre Leser auch nur hinters Licht.

"Buster", wie ihr alter Quälgeist heißt, löst sich beinahe in Luft auf. An seinen Platz treten Bekennerschreiben, die er seiner Ex-Geliebten zukommen lässt. Es sind Morderzählungen: klinisch-kalte Ergüsse eines kaputten, auf die Auslöschung jedes Eigensinns trainierten Gemüts.

Böser Clown

An solchen Demarkationslinien macht A. L. Kennedy ihren Einspruch fest. Nicht erst durch das Wirken eines "bösen Clowns" wie Boris Johnson wurde Merry Old England an den Abgrund gedrängt. Durch die Außerkraftsetzung des Gemeinsinns wird die Seele jeder einzelnen zum Kriegsschauplatz: Man verletzt den anderen, um die eigene Fitness zu überprüfen.

Jeder Staatsbürger eine betrogene Kinderseele. Lügen, Täuschen, der Rohheit frönen – Kennedys gallbittere Abrechnung mit einer Nation ohne anständige Gemüts- und Gemüseversorgung ist vorerst auf Deutsch erschienen. Es harrt noch der Veröffentlichung im Königreich. Auch ohne dieses famose Buch müssen Großbritanniens Gutmenschen zusehen – wie sich ihr Reich, einst Wiege des industriellen Fortschritts, allmählich in ein "Drittweltland" verwandelt. Kennedy, Autorin der Romane Day (2007) und Süßer Ernst (2018), ist Zeugin. (Ronald Pohl, 4.4.2023)