Avivah Goldman bei ihrem Besuch am Wiesenhof im Februar 2023. Das Bild in ihren Händen zeigt den Ort kurz nach dem Krieg, als er eine wichtige Drehscheibe für Holocaust-Überlebende war. Goldmans Vater Solomon war einer jener Bricha-Männer, die damals den Flüchtlingen beim illegalen Grenzübertritt halfen.

Foto: Matthias Breit

Das Foto der Bricha-Männer, die Holocaustüberlebenden bei ihrer Flucht halfen.

Foto: United States Holocaust Memorial Museum Photo Archives

Die Feier zur Gründung des Staates Israel 1948 am Wiesenhof – mit dabei die Goldmans.

Foto: United States Holocaust Memorial Museum Photo Archives

Absam – Ende Februar wurde eine Dame aus New York beim Tourismusverband in Hall in Tirol vorstellig. Sie sei auf der Suche nach dem Ort, an dem sich ihre Eltern kennen- und lieben gelernt haben. Avivah Goldman ist Tochter der Holocaust-Überlebenden Sonia und Solomon Goldman, die es in den Nachkriegswirren auf den Wiesenhof nach Absam verschlagen hatte. Von Herbst 1945 bis 1949 bestand hier eines der größten von jüdischen Kriegsüberlebenden selbst verwalteten Flüchtlingslager Österreichs. Es diente als Durchgangsort auf dem Weg in eine Zukunft in Freiheit.

Die Fäden im Hintergrund zog die Bricha, eine jüdische Untergrundorganisation, die Holocaust-Überlebende bei der Flucht ins damals noch britische Mandatsgebiet Palästina, den späteren Staat Israel, oder in die USA unterstützt hat. Mehr als 52.000 Menschen, vorwiegend Jüdinnen und Juden aus Osteuropa, gelang diese Flucht über Absam. Goldmans Vater Solomon half dabei mit. Heute würde man ihn dafür als Schlepper bezeichnen, denn die Flucht war illegal. Fast täglich wurden Menschen im Lastwagen über den Brenner oder den Reschenpass in norditalienische Hafenstädte gebracht. Meist gelang dies, auch weil die französischen Besatzer in Tirol wenig Interesse daran hatten, die jüdischen Flüchtenden aufzuhalten.

Eine emotionale Spurensuche

Beim Tourismusverband wusste man allerdings nicht so recht, wie man Avivah Goldman bei ihrer Bitte weiterhelfen könnte. Denn es gibt heute nichts mehr in Absam, was an diese Geschichte des Wiesenhofs erinnert. Also kontaktierte man den Kurator des Gemeindemuseums, Matthias Breit. Der wusste sofort, wonach Goldman suchte, und führte die Besucherin an diesen vergessenen Ort. Neben dem Wiesenhof selbst waren auch im nahen Gnadenwalderhof jüdische Flüchtlinge untergebracht. Von Letzterem existieren allerdings nur noch ein paar Mauerreste.

Für Avivah Goldman war es eine emotionale Spurensuche. Ihre Eltern Sonia und Solomon leben heute in New York und erzählen manchmal vom "Lager in Tirol". Für Avivah ist der Wiesenhof durch diese Erzählungen zu einem "Ort des Überlebens und des Befreiens" geworden. Ihre Eltern hatten die Gräuel des Holocaust durchgemacht. Ihre Tante wurde von deutschen Soldaten in Polen erschossen. Vater Solomon überlebte mehrere Konzentrationslager, zuletzt schuftete er als Zwangsarbeiter im BMW-Werk im KZ München-Allach. Die Befreiung kam für ihn während eines sogenannten Todesmarsches am 30. April 1945.

Selbstbestimmte Umgebung

Am Wiesenhof haben sich die Holocaust-Überlebenden unter dem Schutz der französischen Armee ihr Umfeld in Eigenregie gestalten können. So entstand hier ein selbstbewusster Ort jüdischen Lebens. "Was wohl mit ein Grund für das kollektive Vergessen sein dürfte", mutmaßt Museumskurator Breit.

Solomon Goldman, der damals in Innsbruck sein Studium wiederaufgenommen hat, unterrichtete im Lager "Jewish Education", da es für die Überlebenden nach dem Holocaust besonders wichtig war, die eigene Kultur zu pflegen. Außerdem wurde ein Kibbuz eingerichtet, um Jugendlichen die Grundlagen der Landwirtschaft beizubringen, die sie in Israel brauchen würden. Ob es auch militärische Ausbildung gab, ist nicht eindeutig bewiesen. Doch vieles deutet darauf hin.

Nach außen war das Lager abgeschottet, noch immer begegneten viele Einheimische den jüdischen Flüchtlingen mit Vorbehalten. Sie würden Obst aus den Gärten stehlen, und sexuelle Übergriffe hätten zugenommen, wurde damals gemunkelt, wie Recherchen von Museumskurator Breit zeigen: "Ganz ähnlich den Vorurteilen, die heute Flüchtlingen entgegengebracht werden." Auch die kostenlosen Bustickets für Wiesenhof-Bewohner, damit diese nach Innsbruck oder Hall fahren konnten, sorgten für Unmut. Im Lager am Wiesenhof wurde unterdessen gefeiert, wie etwa Aufnahmen vom Fest zur Gründung des Staates Israel im Jahr 1948 belegen.

Heute wird hier Polizei ausgebildet

Einer, der von dieser Geschichte weiß und erzählt, ist Chefinspektor Hubert Juen. Denn der Wiesenhof beherbergt heute das Bildungszentrum Absam des Innenministeriums (BZS), Tirols Polizeischule. Im Herbst 2022 ließ das Innenministerium hier Zelte für Flüchtlinge errichten. Es war ein umstrittener Akt der Symbolpolitik auf vorbelastetem Boden, was den Entscheidungsträgern wohl nicht bewusst oder egal war. Juen hingegen vermittelt den Polizeischülern und -schülerinnen, an welch geschichtsträchtigem Ort sie studieren. Im Zuge des anstehenden Umbaus des BZS haben Kurator Breit und die Gemeinde Absam die Errichtung einer öffentlichen Gedenkstätte angeregt. Sehr konkret seien diese Pläne aber noch nicht, man arbeite daran, sagt Juen.

Außerdem versucht Breit zusammen mit anderen für Solomon Goldman, der später als jüdischer Pädagoge in den USA Karriere gemacht hat, ein Ehrendoktorat an der Universität Innsbruck zu erwirken. Als Erinnerung an ein Kapitel jüdischen Überlebens in Tirol. (Steffen Kanduth, 6.4.2023)