Wird heuer obendrein mit dem Staatspreis für Literaturkritik geehrt: Klaus Kastberger vor seiner Grazer Wirkungsstätte.

Foto: Clara Wildberger

Besucher des Grazer Literaturhauses sind vor kaum einer Überraschung gefeit. Unter Klaus Kastbergers Leitung hat sich das Haus seit 2015, natürlich unter strikter Wahrung seiner germanistischen Würde, in ein mopsfideles Literaturmodul verwandelt. Wer möchte, darf weiterhin guten Gewissens der Autorschaft beim Rezitieren von Texten lauschen. Doch der Vermittlungsehrgeiz des Germanisten Kastberger zielt über solche Kinkerlitzchen hinaus.

Man lädt in der Elisabethstraße zu Lounge-Gesprächen. Man tischt die Bücher ofenwarm, das heißt: "druckfrisch" auf. Veranstaltet werden aber auch Gipfeltreffen, solche zwischen Literatur und Wissenschaft. Wobei das Publikum dem überzeugenderen Vertreter der beiden Disziplinen den Sieg zuerkennt. Oder Kastberger lädt gemeinsam mit Kollegin Daniela Strigl zum Showformat "Roboter mit Senf": Die Poesievermittlung misst sich mit Youtube und Social-Media. Fehlt gerade noch, dass es ein Sack-Race-Slam gibt.

Frohgemut nach der Decke

Die Literaturvermittlung, gewinnt man den Eindruck, streckt sich in Graz dank Kastbergers Bemühungen frohgemut nach der Decke: Poetry is Showbiz. Und so wird man durch Lektüre einer neuen Aufsatzsammlung aus der Feder des Tausendsassas auf dessen Kernkompetenz zurückverwiesen.

Das Buch Alle Neune enthält einen Aufriss der jüngeren österreichischen Literatur, verpackt in zehn Kapitel. Der "Star" des gelernten Archivars Kastberger ist – das Archiv. Gemeint ist ein Ort der Sammlung, der sich ebenso gut als Werkstätte eignet. In dieser vervielfältigt sich unaufhörlich der Papierkram. In ihr wachsen Werke zusammen oder gehen wechselseitig auseinander hervor.

Das Archiv ist laut Kastberger ein Moloch. "Ich bin", erläutert es der bald 60-Jährige, "unter dem Einfluss von Überlegungen Jacques Derridas vom Prinzip der Werkgenese etwas abgerückt. Im Archiv lässt sich das ,Einzelwerk‘ vom Rest gar nicht abtrennen." Man legt als dichtend sich Verzettelnder nicht bloß ab. Man operiert auch mit dem, was fehlt.

Kastberger nennt als Beispiel Elfriede Jelineks Die Kinder der Toten (1995). Oder er verweist auf Avantgardisten wie Gerhard Rühm. Dieser hätte mit autohypnotischem Eifer ein Phänomen wie das der "Wiener Gruppe" nachträglich zusammengezimmert. Irgendwo, an der Kippe zwischen Manuskriptbestand und Leserschaft, kommt der Literaturvermittler ins Spiel. Jemand wie Kastberger.

Enthusiasmus siegt

Der gebürtige Gmundener zählt zu den raren Vernetzungsartisten. Als Juror der Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs hat er sich die Würden eines Nestors voller Enthusiasmus ersessen. "Einst war ich der jüngste und emotionalste, jetzt bin ich der älteste unter den Juroren." Kein Gedanke an Resignation: "Ich habe schon zweimal die Siegerin gestellt. Manchmal denke ich, ich könnte den Hattrick auch noch machen." In der fetten, literaturreichen Grazer Erde hat er klaftertief Wurzeln geschlagen. Auf den Schwerpunkt-Auftritt bei der Leipziger Buchmesse ist er gespannt. Jeder Leipziger Taxifahrer wisse inzwischen über Österreichs Autorschaft Bescheid.

Auch sonst geht an Kastbergers ansteckendem Optimismus jegliche Skepsis zuschanden. Es tue sich genug in der Kleinverlagswelt, in Häusern wie mikrotext oder Voland & Quist. Es müssten nicht immer Romane sein ("Da passiert augenblicklich nicht viel"). Kastberger schwärmt von Hybridformen, etwas Neuem zwischen Lyrik und Prosa. Man muss die Dinge wohl einfach offensiver bewerben. Mit Robotern und einer Extraportion Senf. (Ronald Pohl, 6.4.2023)