14 Jahre lang verfasste die vermeintliche Ärztin im Rollstuhl Blogbeiträge. Das verschaffte ihr tausende Fans, die die Offenheit und den Witz in den Texten zu schätzen lernten.

Foto: Twitter/Jule Stinkesocke

Ein Mann soll sich für eine querschnittsgelähmte Ärztin ausgegeben haben, deren Profilbild im Netz kürzlich einer australischen Pornodarstellerin zugeordnet wurde. Der Fall "Jule Stinkesocke" schlägt hohe Wellen im Netz und zeigt einmal mehr, wie eng beisammen Wahrheit und Täuschung liegen können.

Betrugsverdacht

Sie sei eine querschnittsgelähmte Ärztin, ließ Julia Gothe auf ihrem Blog und auf ihrem 70.000 Follower starken Twitter-Account wissen. Die damit verbundenen Schwierigkeiten im Alltag füllten in den letzten 14 Jahren ihre Beiträge, die gerade in der inklusiven Szene schnell Verbreitung fanden. Ein Vater, so schreibt sie, wolle seinen Sohn nicht bei ihr behandeln lassen, weil sie im Rollstuhl sitze, und auch ihr Problem mit Inkontinenz wird immer wieder detailliert beschrieben.

Nachdem Gothes Blog in den letzten 14 Jahren für Engagement in der inklusiven Szene ausgezeichnet wurde und auch diverse erfolgreiche Spendenaktionen über die vermeintliche Ärztin gelaufen sind, sorgen kürzlich veröffentlichte Ungereimtheiten für den Verdacht, Gothe könnte nur erfunden sein.

Abgesehen von dem Profilbild, das nicht Gothe sein kann, trugen unter anderem ein anonymer Account, aber auch andere Personen über die letzten Jahre Indizien zusammen, die beweisen sollen, dass die angebliche Rollstuhlnutzerin Fiktion ist. Hinter den Onlineaccounts soll stattdessen der Trainer eines Hamburger Schwimmvereins für Menschen mit Behinderung stehen. Markus L. bestreitet die Vorwürfe und ließ über seine Anwälte gegenüber dem ZDF wissen, dass die Vorwürfe "unwahr" seien.

Foto: Twitter

Ungereimtheiten

Vor wenigen Tagen schrieb ein anonymes Nutzerkonto auf Twitter: "Juchu, @JuleStinkesocke kann stehen und gehen!" Dazu postete es Bilder einer australischen Pornodarstellerin, die aussieht wie die Frau auf dem Profilbild der Bloggerin. Kurz darauf verschwand das Foto vom Stinkesocke-Account, wieder ein paar Stunden später waren das Twitter-Profil und Gothes Blog nicht mehr im Netz auffindbar.

Interessierte Nutzer und Nutzerinnen gruben archivierte Versionen der Website aus und fanden im Impressum den Namen von Markus L., der dort als Administrator genannt wird. Dieser ist Fans von Julia Gothe bekannt, hat er doch immer wieder mit der Bloggerin interagiert, und 2020 hatte die mutmaßlich fiktive Gothe zu einer Spendenaktion für Markus L. aufgerufen, die ihm half, ein neues Auto zu finanzieren. Im Vorjahr, Gothe wurde nach eigenen Aussagen 30, wünschte sie sich von ihren Leserinnen und Lesern, für den Verein von Markus L. zu spenden.

Getroffen hat die Bloggerin nie jemand, obwohl ihre Arbeit mit dem Preis der Blog-Awards der Deutschen Welle ausgezeichnet wurde und sie einen Gastbeitrag für ein Fachmagazin verfasste. Auch das wurde in den Kommentaren zum Hashtag #JuleStinkesocke mehrfach bestätigt.

Nach dem anonymen Posting zum falschen Profilbild ist die Bloggerin mehrere Tage abgetaucht. Im Netz wird allerdings eine Stellungnahme von ihr verbreitet. In dieser schreibt Gothe, sie habe über "reale Erlebnisse" geschrieben, die sie allerdings nie mit "realen Namen" oder "exaktem Wortlaut" wiedergegeben habe.

Fader Beigeschmack

Ob "Jule Stinkesocke" wirklich existiert, weiß man zum heutigen Zeitpunkt nicht. Viele Fans der vermeintlichen Bloggerin nehmen sie in Schutz und finden das verfasste Statement "nachvollziehbar und schlüssig". Ein Nutzer schreibt, er habe mit "Jule Stinkesocke" auch schon persönlich gesprochen: "Sie ist echt." Die Mehrheit fühlt sich allerdings getäuscht. Die Lektion, so schreibt ein Nutzer in den Twitter-Kommentaren, sei nicht, ob der Account fake oder echt sei, sondern "die Erkenntnis, dass wir diese Dinge prinzipiell nicht wissen, wenn wir in Social Media interagieren".

Am Ende steht die Frage, warum Menschen so etwas überhaupt machen? Um das in diesem konkreten Fall beantworten zu können, müsste man "Jule" – beziehungsweise den Betreiber oder die Betreiberin der Seite dahinter – kennen, aber was man allgemein sagen kann: Es geht immer um ein großes Bedürfnis an Aufmerksamkeit, erklärt Barbara Haid, Präsidentin des Österreichischen Bundesverbands für Psychotherapie. "Jedes Like, jeder Follower mehr stabilisiert ein Stück weit den geschwächten Selbstwert."

Allerdings nur kurzfristig, betont sie: "Die positiven Gefühle von virtueller Aufmerksamkeit verpuffen schnell wieder. Noch dazu dann, wenn man sie für etwas Unwahres bekommt." Nur echte zwischenmenschliche Aufmerksamkeit könne einem dauerhaft Stabilität geben. Das sei auch der Grund, warum Lügen und Betrugsfälle mit der Zeit immer extremer und skurriler würden – in dem Fall eine erfundene Behinderung. "Es entsteht eine suchtähnliche Dynamik. Man braucht immer mehr, noch mehr und noch mehr Aufmerksamkeit von außen", erklärt Haid. (red, 6.4.2023)